Die Liga der Rotschöpfe Eine Frage der Identität Das Rätsel von Boscombe Valley Der blaue Karfunkel zurück

Ein Skandal in Böhmen


Für Sherlock Holmes bleibt sie immer die Frau. Selten habe ich ihn sie mit einem anderen Namen erwähnen hören. In seinen Augen überstrahlt und beherrscht sie ihr gesamtes Geschlecht. Keineswegs war es so, daß er für Irene Adler eine mit Liebe verwandte Empfindung gehegt hätte. Alle Gefühle, und dieses ganz besonders, waren seinem kalten, genauen, aber wundervoll ausgewogenen Geist zuwider. Für mich war er die vollkommenste Denk- und Beobachtungsmaschine, die die Welt je gesehen hat; als Liebhaber hätte er sich jedoch in eine falsche Position begeben. Über die sanfteren Leidenschaften sprach er niemals anders denn mit einer höhnischen oder spöttischen Bemerkung. Als Beobachter kamen ihm diese Regungen prächtig zupaß – sie eigneten sich vorzüglich dazu, den Schleier über den Beweggründen und Handlungen der Menschen zu lüften. Dem geübten Denker hingegen wäre das Zulassen solcher Einflüsse in sein kompliziertes und feinstens austariertes Seelenleben gleichbedeutend gewesen mit der Einführung eines Ablenkungsfaktors, der all seine geistigen Erträge zweifelhaft machen mußte. Sand in einem empfindlichen Instrument oder ein Sprung in einem seiner starken Vergrößerungsgläser könnten für eine Natur wie die seine nicht störender sein als eine starke Gefühlsregung. Und dennoch gab es für ihn nur eine Frau, und diese Frau war die inzwischen verstorbene Irene Adler, zweifelhaften und fragwürdigen Angedenkens.

In letzter Zeit hatte ich Holmes kaum zu Gesicht bekommen. Meine Heirat hatte uns auseinandertreiben lassen. Mein vollkommenes Glück und die auf die unmittelbare Umgebung bezogenen Interessen, die dem Mann erwachsen, der sich erstmals Herr eines eigenen Hausstands findet, reichten aus, um meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen; Holmes dagegen, der jede Form von Gesellschaft mit seiner ganzen BohèmeSeele verabscheute, blieb in unserer Behausung in der Baker Street, vergrub sich zwischen seinen alten Büchern und verbrachte die Wochen abwechselnd mit Kokain und Ehrgeiz, der Schläfrigkeit der Droge und der unbezähmbaren Tatkraft seines lebhaften Wesens. Wie zuvor zog ihn das Studium des Verbrechens zutiefst an, und er verwandte seine gewaltigen Geistesgaben und seine außerordentlichen Beobachtungskünste darauf, jenen Hinweisen nachzugehen und jene Rätsel zu lösen, die von der Polizei als hoffnungslos aufgegeben worden waren. Von Zeit zu Zeit hörte ich vage Berichte über seine Taten: Über seine Einladung nach Odessa im Mordfall Trepoff, seine Aufklärung der einzigartigen Tragödie der Brüder Atkinson in Trincomalee, schließlich über den Auftrag, den er für das holländische Herrscherhaus mit so viel Feingefühl und Erfolg erfüllte. Über diese Anzeichen seiner Aktivität hinaus, an denen ich den gleichen Anteil hatte wie alle Leser der Tagespresse, wußte ich jedoch kaum etwas über meinen früheren Freund und Gefährten.

Eines Abends – es war der 20. März 1888 – kehrte ich eben von der Fahrt zu einem Patienten zurück (denn ich hatte wieder im zivilen Bereich zu praktizieren begonnen), als mein Weg mich durch die Baker Street führte. Beim Passieren der wohlbekannten Tür, die in meinem Herzen stets mit der Zeit meines Werbens und mit den düsteren Ereignissen im Zusammenhang mit der Studie in Scharlachrot verbunden sein wird, befiel mich der lebhafte Wunsch, Holmes wiederzusehen und zu erfahren, worauf er zur Zeit seine außergewöhnlichen Fähigkeiten verwandte. Seine Räume waren strahlend hell erleuchtet, und noch als ich emporschaute, sah ich seine große hagere Gestalt zweimal als dunkle Silhouette an der Gardine vorbeigehen. Er schritt schnell und versunken im Raum auf und ab, das Kinn auf der Brust, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Mir, der ich alle seine Stimmungen und Angewohnheiten kannte, erzählten seine Haltung und sein Verhalten ihre Geschichte. Er war wieder bei der Arbeit. Er hatte sich aus den von der Droge erschaffenen Träumen erhoben und war einem neuen Problem eng auf der Fährte. Ich zog an der Türglocke und wurde zu dem Zimmer emporgeführt, das früher teilweise mein eigenes gewesen war.

Er war nicht gerade überschwenglich. Das war er selten; ich glaube aber, daß er sich freute, mich zu sehen. Fast ohne ein Wort zu sagen, aber mit freundlichen Blicken wies er mir einen Lehnstuhl an, warf mir seine Zigarrenkiste zu und deutete auf eine Ecke, in der sich ein Kabinett mit alkoholischen Getränken und eine Flasche Sodawasser[1] befanden. Dann stand er vor dem Kamin und musterte mich in seiner merkwürdig eindringlichen Weise.

»Der Ehestand bekommt Ihnen gut«, bemerkte er. »Ich glaube, Sie haben siebeneinhalb Pfund zugenommen, seit ich Sie zuletzt gesehen habe, Watson.« »Sieben«, gab ich zurück.


»So? Ich hätte gedacht, es wäre ein wenig mehr. Natürlich nur ein kleines bißchen mehr, schätze ich, Watson. Und Sie praktizieren wieder, wie ich sehe. Sie haben mir doch gar nichts davon erzählt, daß Sie wieder in die

Sielen steigen wollten.«

»Woher wissen Sie es dann?«

»Ich sehe es, ich deduziere es. Woher weiß ich denn wohl, daß Sie vor kurzem sehr naß geworden sind und daß Sie ein sehr ungeschicktes und unaufmerksames Dienstmädchen haben?«

»Mein lieber Holmes«, sagte ich, »das ist mir zu hoch.

Wenn Sie vor ein paar Jahrhunderten gelebt hätten, wären Sie bestimmt verbrannt worden. Ich habe zwar am Donnerstag einen Spaziergang über Land gemacht und schlimm ausgesehen, als ich nach Hause kam; da ich aber meine Kleidung gewechselt habe, weiß ich wirklich nicht, wie Sie das deduziert haben. Was Mary Jane angeht, die ist unverbesserlich, und meine Frau hat ihr gekündigt; aber auch hier begreife ich nicht, wie Sie dahintergekommen sind.«

Er lachte in sich hinein und rieb seine langen, nervigen Hände.

»Nichts einfacher als das«, sagte er; »meine Augen sagen mir, daß auf der Innenseite Ihres linken Schuhs, gerade dort, wo das Licht des Feuers hinfallt, das Leder von sechs fast parallelen Streifen markiert ist. Offensichtlich stammen sie daher, daß jemand um die Kanten der Sohle herum gekratzt hat, um verkrusteten Lehm zu entfernen. Daher also meine doppelte Deduktion, daß Sie bei üblem Wetter unterwegs gewesen sind, und daß Sie es mit einem besonders schlimmen schuhschänderischen Exemplar der Gattung Londoner Kratzbürste zu tun haben. Was Ihr Praktizieren angeht – wenn ein Gentleman meine Räumlichkeiten betritt, nach Jodoform riecht, am rechten Zeigefinger einen schwarzen Silbernitratfleck hat und eine Ausbuchtung an der Seite seines Zylinders mir zeigt, wo er sein Stethoskop versteckt, dann müßte ich wirklich stumpfsinnig sein, wenn ich ihn nicht zum aktiven Mitglied der ärztlichen Zunft erklärte.«

Die Mühelosigkeit, mit der er seinen Deduktionsprozeß erläuterte, brachte mich zum Lachen. »Wenn ich höre, wie Sie Ihre Gründe anführen«, bemerkte ich, »scheint mir die Sache immer so lächerlich einfach, daß ich es leicht selbst machen könnte, und trotzdem bin ich bei jedem neuen Beweis Ihrer Denkprozesse wieder verblüfft, bis Sie mir die Einzelschritte erklären. Und bei alledem glaube ich immer noch, daß meine Augen ebenso gut sind wie Ihre.«

»Sicher sind sie es«, antwortete er; er zündete eine Zigarette an und warf sich in einen Lehnsessel. »Sie sehen, aber Sie beobachten nicht. Der Unterschied ist klar. Zum Beispiel haben Sie doch die Stufen, die von der Diele zu diesem Raum heraufführen, häufig gesehen.« »Oft.«

»Wie oft?«

»Also, einige hundert Mal.«

»Und wie viele sind es?«

»Wie viele! Das weiß ich nicht.«

»Sehen Sie? Sie haben nicht beobachtet. Und trotzdem haben Sie gesehen. Darauf wollte ich hinaus. Nun, ich dagegen weiß, daß es siebzehn Stufen sind, weil ich sie sowohl gesehen als auch beobachtet habe. Übrigens: Da Sie sich für diese kleinen Probleme interessieren und da Sie so freundlich waren, eine oder zwei von meinen nebensächlichen Erfahrungen aufzuzeichnen, könnte es sein, daß das hier Sie interessiert.« Er warf mir ein Blatt dicken, rosafarbenen Briefpapiers zu, das offen auf dem Tisch gelegen hatte. »Das ist mit der letzten Post gekommen«, sagte er. »Lesen Sie es laut.«

Die Note trug weder Datum noch Unterschrift, noch Adresse.

»›Heute abend um Viertel nach acht wird ein Gentleman Sie aufsuchen, der Sie in einer Angelegenheit von allergrößter Bedeutung zu konsultieren wünscht. Ihre jüngsten Dienste an einem der Königshäuser Europas haben gezeigt, daß Ihnen unbesorgt Angelegenheiten anvertraut werden können, deren Bedeutsamkeit kaum zu übertreiben ist. Diese Einschätzung Ihrer Person haben wir allenthalben vorgefunden. Seien Sie also zur genannten Stunde in Ihren Räumen, und nehmen Sie keinen Anstoß daran, daß Ihr Besucher möglicherweise eine Maske trägt[2].‹ – Das ist wirklich mysteriös«, bemerkte ich. »Haben Sie eine Vorstellung davon, was es bedeuten könnte?«

»Ich habe noch keine Tatsachen. Es ist ein schwerer Fehler, Theorien aufzustellen, bevor man Tatsachen hat. Dann fängt man unmerklich an, die Tatsachen zu verdrehen, bis sie zu den Theorien passen, statt die Theorien den Tatsachen anzupassen. Aber die Note selbst. Was können Sie daraus ableiten?«

Sorgfältig untersuchte ich den Text und das Papier, auf dem er geschrieben war.

»Der Mann, der das geschrieben hat, ist vermutlich wohlhabend«, bemerkte ich; ich versuchte, die Denkprozesse meines Gefährten zu imitieren. »Solch ein Papier bekommt man nicht unter einer halben Krone pro Päckchen. Es ist eigenartig dick und steif.«

»Eigenartig – das ist genau das Wort«, sagte Holmes. »Es ist gar kein englisches Papier. Halten Sie es vor das Licht.«


Ich hielt es hoch und sah ein großes E mit einem kleinen g, ein P und ein großes G mit einem kleinen t ins Papier eingewirkt.

»Was schließen Sie daraus?« fragte Holmes.

»Das ist ohne Zweifel der Name des Herstellers; oder eher sein Monogramm.«

»Keineswegs. Das G mit dem kleinen t steht für das deutsche Wort ›Gesellschaft‹. Die Abkürzung ist so üblich wie unser Co. für Company. P steht natürlich für ›Papier‹. Nun zu dem Eg. Werfen wir einen Blick in unser Handbuch des Kontinents.« Er nahm einen schweren braunen Band aus dem Regal. »Egeln, Egelsee – da haben wir’s, Eger. Es liegt in einem deutschsprachigen Land – in Böhmen, nicht weit von Karlsbad entfernt. ›Bekannt als Schauplatz von Wallensteins Tod sowie für seine zahlreichen Glasbläsereien und Papiermühlen.‹ Ha, ha, mein Junge, was halten Sie davon?« Seine Augen sprühten, und von seiner Zigarette ließ er eine große blaue Wolke des Triumphs aufsteigen.

»Das Papier ist in Böhmen hergestellt worden«, sagte ich.

»Genau. Und der Mann, der darauf geschrieben hat, ist ein Deutscher. Fällt Ihnen der merkwürdige Satzbau auf – ›Diese Einschätzung Ihrer Person haben wir allenthalben vorgefunden‹? Kein Franzose oder Russe könnte das geschrieben haben. Nur der Deutsche ist seinen Verben gegenüber so unhöflich. Also bleibt nun nur noch zu entdecken, was dieser Deutsche will, der auf böhmischem Papier schreibt und lieber eine Maske trägt als sein Gesicht zeigt. Und da kommt er schon, wenn ich mich nicht irre, um uns aus allen Zweifeln zu erlösen.«

Noch während er sprach, hörten wir deutlich den harten Klang von Pferdehufen und Wagenräder, die am Bordstein entlangknirschten, gefolgt von einem scharfen Läuten der Türglocke. Holmes pfiff.

»Doppelgespann, dem Klang nach«, sagte er. »Ja«, meinte er dann, als er aus dem Fenster schaute. »Ein nettes kleines Coupé und ein Paar schöner Tiere. Einhundertfünfzig Guineen pro Stück. In diesem Fall steckt

Geld, Watson, wenn auch vielleicht sonst nichts.«

»Ich glaube, ich gehe wohl besser nach Hause, Holmes.«

»Kommt nicht in Frage, Doktor. Bleiben Sie, wo Sie sind. Ohne meinen Eckermann bin ich verloren. Und die Sache verspricht, interessant zu werden. Es wäre ein

Jammer, wenn sie Ihnen entginge.«

»Aber Ihr Klient …«

»Kümmern Sie sich nicht um ihn. Ich könnte Ihre Hilfe benötigen, und er vielleicht auch. Da kommt er. Setzen Sie sich in diesen Lehnstuhl da, Doktor, und schenken Sie uns Ihre ganze Aufmerksamkeit.«

Ein langsamer, schwerer Schritt, den wir schon auf der Treppe und im Korridor gehört hatten, hielt unmittelbar vor der Tür inne. Dann folgte ein lautes, gebieterisches Klopfen.

»Herein!« sagte Holmes.

Ein Mann trat ein, der kaum kleiner als sechs Fuß sechs Zoll sein konnte, mit Brust und Gliedern eines Herkules. Seine Kleidung war in einer Weise kostbar, die in England als schlechter Geschmack gegolten hätte. Sein zweireihiger Rock war vorn und an den Ärmeln mit schweren Streifen von Astrachanpelz besetzt, während der tiefblaue Umhang, den er über die Schultern geworfen hatte, von flammenfarbener Seide gesäumt und am Hals mit einer Brosche befestigt war, die aus einem einzigen lodernden Beryll bestand. Stiefel, die bis zur Hälfte seiner Waden reichten und deren Schäfte mit schwerem braunem Pelz geschmückt waren, vervollständigten den Eindruck barbarischen Reichtums, der von seiner ganzen Erscheinung ausging. Er trug einen breitkrempigen Hut in der Hand, und die obere Hälfte seines Gesichts bis unterhalb der Wangenknochen war mit einer schwarzen visierartigen Maske bedeckt, die er anscheinend eben erst zurechtgerückt hatte, denn als er eintrat, lag seine Hand noch an der Larve. Dem unteren Teil seines Gesichts nach schien er ein Mann mit kraftvollem Charakter zu sein, mit schwerer, hängender Unterlippe und einem geraden, ausgeprägten Kinn, das Entschlossenheit bis hin zur Starrköpfigkeit andeutete.

»Sie haben meine Note erhalten?« fragte er mit einer schroffen, tiefen Stimme und einem sehr merklichen deutschen Akzent. »Ich habe Ihnen geschrieben, ich würde kommen.« Er blickte zwischen uns hin und her, als sei er unsicher, an wen er sich wenden solle.

»Bitte nehmen Sie Platz«, sagte Holmes: »Das ist mein Freund und Kollege Dr. Watson, der bisweilen so freundlich ist, mir bei meinen Fällen zu helfen. Mit wem habe ich die Ehre?«

»Sie können mich Baron von Kramm nennen; ich bin ein böhmischer Edelmann. Ich nehme an, dieser Gentleman, Ihr Freund, ist ein Mann von Ehre und Verschwiegenheit, dem ich in einer Angelegenheit von allergrößter Bedeutung trauen kann. Falls nicht, zöge ich es vor, mit Ihnen allein zu sprechen.«

Ich erhob mich, um zu gehen, aber Holmes ergriff mein Handgelenk und drückte mich wieder in meinen Stuhl. »Beide oder keiner«, sagte er. »Alles, was Sie mir zu sagen haben, können Sie auch vor diesem Gentleman sagen.«

Der Graf zuckte mit seinen breiten Schultern. »Dann muß ich beginnen«, sagte er, »indem ich Sie beide für zwei Jahre zu absoluter Geheimhaltung verpflichte; nach dieser Zeit wird die Angelegenheit keinerlei Bedeutung mehr haben. Gegenwärtig übertreibe ich nicht, wenn ich sage, daß sie von einem solchen Gewicht ist, daß sie die europäische Geschichte beeinflussen könnte.«

»Ich verspreche es«, sagte Holmes. »Ich ebenfalls.«


»Sie werden diese Maske entschuldigen«, fuhr unser seltsamer Besucher fort. »Die erhabene Person, in deren Diensten ich stehe, wünscht, daß ihr Agent Ihnen unbekannt bleibe, und ich will gleich zugeben, daß der Titel, mit dem ich mich Ihnen eben vorgestellt habe, nicht wirklich der meine ist.«

»Das war mir klar«, sagte Holmes trocken.

»Die Umstände sind überaus heikel, und man hat alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um etwas im Keime zu ersticken, was sich zu einem ungeheuren Skandal auswachsen und eine der herrschenden Familien Europas ernstlich kompromittieren könnte. Um es deutlich zu sagen, die Angelegenheit betrifft das hohe Haus Ormstein, das Haus der erblichen Könige von Böhmen.«

»Auch das war mir klar«, murmelte Holmes; er machte es sich in seinem Lehnstuhl bequem und schloß die Augen.

Unser Besucher betrachtete mit offensichtlicher Überraschung die matt daliegende Gestalt des Mannes, der ihm ohne Zweifel als der schärfste Denker und energischste Detektiv Europas dargestellt worden war. Holmes öffnete seine Augen langsam wieder und sah seinen riesigen Klienten ungeduldig an.

»Wenn Sie sich dazu herablassen wollten, Ihr Anliegen darzulegen, Majestät«, bemerkte er, »könnte ich Sie besser beraten.«

Der Mann sprang aus seinem Sessel auf und begann, in nicht zu unterdrückender Erregung im Raum hin und her zu gehen. Mit einer Gebärde der Verzweiflung riß er sich schließlich die Maske vom Gesicht und schleuderte sie zu Boden. »Sie haben Recht«, rief er, »ich bin der König. Wozu sollte ich versuchen, es zu verheimlichen?«


»Tatsächlich, wozu?« murmelte Holmes. »Ihre Majestät hatten noch nichts gesagt, als mir schon klar war, daß ich mit Wilhelm Gottsreich Sigismund von Ormstein, dem Großherzog von Kassel-Falstein und erblichen König von Böhmen sprach.«

»Sie werden aber verstehen«, sagte unser seltsamer Besucher, wobei er sich wieder niederließ und mit der Hand über seine hohe weiße Stirn fuhr, »Sie werden verstehen, daß ich nicht daran gewöhnt bin, solche Geschäfte persönlich abzuwickeln. Die Sache ist jedoch so heikel, daß ich sie keinem Beauftragten anvertrauen konnte, ohne mich ihm dadurch auszuliefern. Ich bin incognito aus Prag hergekommen, um Sie zu konsultieren.«

»Dann konsultieren Sie doch bitte«, sagte Holmes; er schloß seine Augen wieder.

»Dies sind zusammengefaßt die Umstände: Vor etwa fünf Jahren lernte ich während eines längeren Aufenthalts in Warschau die bekannte Abenteurerin Irene Adler kennen. Sie haben diesen Namen sicherlich schon gehört.«

»Suchen Sie sie doch bitte in meinem Index, Doktor«, murmelte Holmes, ohne die Augen zu öffnen. Vor vielen Jahren hatte er sich ein System zurechtgelegt, um alle Daten über Personen und Dinge übersichtlich zu erfassen, so daß es schwierig war, ein Thema oder einen Menschen zu erwähnen, zu dem er nicht sogleich Informationen liefern konnte. In diesem Fall fand ich ihre Biographie eingeklemmt zwischen der eines Rabbiners und der eines Stabscommanders, der eine Monographie über Tiefseefische geschrieben hatte.

»Lassen Sie mal sehen«, sagte Holmes. »Hm! Geboren in New Jersey im Jahre 1858. Kontra-Alt – hm! La Scala, hm! Primadonna der Kaiserlichen Oper Warschau – Ja! Rücktritt von der Opernbühne – ha! Lebt in London – aha, genau! Wenn ich mich nicht irre, Majestät, haben Sie sich mit dieser jungen Person eingelassen, ihr einige kompromittierende Briefe geschrieben, und nun wünschen Sie, diese Briefe zurückzubekommen.«

»Das ist richtig. Aber wie …«

»Hat es eine geheime Eheschließung gegeben?«

»Nein.«

»Keine rechtsgültigen Papiere oder Urkunden?«

»Keine.«

»Dann kann ich Majestät nicht folgen. Wenn diese junge Person Ihre Briefe für eine Erpressung oder andere Zwecke sollte benutzen wollen, wie soll sie ihre Echtheit beweisen?«

»Die Handschrift.«

»Ah, bah! Fälschung.«

»Mein privates Briefpapier.«

»Gestohlen.«

»Mein persönliches Siegel.«

»Nachgemacht.«

»Meine Photographie.«

»Gekauft.«

»Wir sind beide auf der Photographie zu sehen.«

»O du liebe Güte! Das ist sehr schlimm! Majestät haben da wirklich eine Indiskretion begangen.«

»Ich war verrückt – wahnsinnig.«

»Sie haben sich ernstlich kompromittiert.«

»Ich war damals nur Kronprinz. Ich war jung. Ich bin heute erst dreißig.«

»Das Bild muß beschafft werden.«

»Wir haben es versucht und sind gescheitert.«

»Majestät müssen bezahlen. Man wird es kaufen müssen.«

»Sie will es nicht verkaufen.«

»Dann muß man es stehlen.«

»Fünf Versuche sind unternommen worden. Zweimal haben Einbrecher, die in meinem Sold standen, ihr Haus durchwühlt. Einmal haben wir ihr Gepäck fehlgeleitet, als sie reiste. Zweimal hat man ihr aufgelauert. Alles ohne Ergebnis.«

»Niemand hat das Bild zu Gesicht bekommen?«

»Absolut niemand.«

Holmes lachte. »Das ist wirklich ein nettes kleines Problem«, sagte er.

»Für mich aber ein sehr ernstes«, sagte der König vorwurfsvoll.

»Natürlich. Und was hat sie mit der Photographie vor?«

»Mich ruinieren.«

»Aber wie?«

»Ich werde bald heiraten.«

»Ich habe davon gehört.«

»Und zwar Clothilde Lothman von Sachsen-Meningen, die zweite Tochter eines skandinavischen Königs[3]. Vielleicht ist Ihnen bekannt, daß ihre Familie sehr strenge Prinzipien hat. Sie selbst ist die Inkarnation der Feinfühligkeit. Der Schatten eines Zweifels, was mein Verhalten angeht, brächte der Angelegenheit ein jähes Ende.«

»Und Irene Adler?«

»Sie droht, ihnen die Photographie zu senden. Und sie wird es tun. Ich weiß, daß sie es tun wird. Sie kennen sie nicht, aber sie hat eine eherne Seele. Sie hat das Gesicht der schönsten aller Frauen und den Verstand des entschlossensten aller Männer. Es gibt nichts, was sie nicht unternähme, um mich davon abzuhalten, eine andere Frau zu heiraten – nichts.«

»Sind Sie sicher, daß sie das Bild noch nicht abgeschickt hat?«

»Ich bin sicher.«

»Und warum?«

»Weil sie gesagt hat, sie würde es an dem Tag abschicken, an dem das Verlöbnis öffentlich proklamiert wird. Das wird am kommenden Montag geschehen.«

»Oh, dann bleiben uns noch drei Tage«, sagte. Holmes mit einem Gähnen. »Das ist sehr erfreulich, da ich mich gegenwärtig noch um eine wichtige Angelegenheit oder zwei zu kümmern habe. Majestät werden natürlich vorerst in London bleiben?«

»Gewiß. Sie können mich im ›Langham‹ finden, unter dem Namen des Grafen von Kramm.«

»Dann werde ich Sie schriftlich wissen lassen, welche

Fortschritte wir machen.«

»Ich bitte darum. Ich weiß nicht mehr aus noch ein.«

»Nun zur Frage des Geldes.«

»Sie haben carte blanche.«

»Absolut?«

»Ich sage Ihnen, ich würde eine der Provinzen meines Königreiches geben, wenn ich damit die Photographie bekäme.«

»Und für anfallende Ausgaben?«

Der König holte einen schweren sämischledernen Beutel unter seinem Umhang hervor und legte ihn auf den Tisch.

»Hier sind dreihundert Pfund in Gold und siebenhundert in Banknoten«, sagte er.

Holmes kritzelte eine Empfangsbestätigung auf ein Blatt aus seinem Notizbuch und reichte es ihm.

»Und die Adresse von Mademoiselle?« fragte er.

»Sie lautet Briony Lodge, Serpentine Avenue, St. John’s Wood.«

Holmes notierte es. »Noch eine Frage«, sagte er. »War die Photographie[4] größer als eine Visitenkarte?«

»Ja.«

»Dann wünsche ich Gute Nacht, Majestät, und ich bin sicher, daß wir bald gute Nachrichten für Sie haben werden. Und auch Ihnen Gute Nacht, Watson«, setzte er hinzu, als die Räder des königlichen Coupés die Straße hinabrollten. »Wenn Sie so freundlich sein wollen, morgen am Nachmittag vorbeizukommen, um drei Uhr, dann würde ich gern mit Ihnen über diese kleine Angelegenheit plaudern.«


Genau um drei Uhr stellte ich mich in der Baker Street ein, aber Holmes war noch nicht zurückgekehrt. Die Hauswirtin teilte mir mit, er sei kurz nach acht Uhr morgens aus dem Haus gegangen. Ich ließ mich jedoch neben dem Kamin nieder in der Absicht, auf ihn zu warten, gleich wie lang es dauern mochte. Ich war von dieser Untersuchung längst gefesselt, denn wenn sie auch keinen der grimmen und merkwürdigen Züge aufwies, die die zwei von mir an anderer Stelle aufgezeichneten Verbrechen[5] umgaben, so erhielt die Untersuchung doch durch die Art des Falles und die hohe Stellung von Holmes’ Klienten einen ganz eigenen Charakter. Abgesehen von den Eigentümlichkeiten dieser Nachforschung, mit der sich mein Freund befaßte, gab es da etwas in seiner meisterhaften Erfassung der Lage und seinem kühlen, scharfen Denken, das es mir zu einem Vergnügen machte, seine Arbeitsweise zu studieren und die schnellen, feinsinnigen Griffe zu verfolgen, mit denen er die verwickeltsten Rätsel entwirrte. So sehr war ich an seine ständigen Erfolge gewöhnt, daß auch nur die Möglichkeit eines Scheiterns mir längst nicht mehr in den Kopf kam.

Es war fast vier Uhr, als sich endlich die Tür öffnete und ein Mensch, der ein betrunkener Pferdeknecht hätte sein können, mit wirrem Haar und Backenbart, rotglühendem Gesicht und verkommener Kleidung den Raum betrat. Obwohl ich doch meines Freundes erstaunliche Fähigkeiten bei der Verwendung von Verkleidungen kannte, mußte ich dreimal hinschauen, bevor ich sicher war, daß es sich wirklich um ihn handelte. Er nickte mir zu und verschwand im Schlafraum, aus dem er fünf Minuten später im Tweedanzug und respektabel wie eh und je zurückkehrte. Er steckte die Hände in die Taschen, streckte seine Beine vor dem Feuer aus und lachte eine ganze Weile herzhaft.

»Nein, wirklich!« rief er und verschluckte sich; dann lachte er wieder, bis er sich schlaff und hilflos im Lehnstuhl zurückfallen lassen mußte.

»Was gibt es denn?«

»Es ist einfach zu lustig. Ich wette, Sie kämen nie darauf, wie ich meinen Vormittag zugebracht oder was ich zuletzt getan habe.«

»Ich habe keine Ahnung. Ich nehme an, Sie haben die Gewohnheiten und vielleicht das Haus von Miss Irene

Adler beobachtet.«

»Das habe ich, aber was dann kam, war ziemlich ungewöhnlich. Ich will es Ihnen aber erzählen. Ich bin heute morgen kurz nach acht Uhr aus dem Haus gegangen, als arbeitsloser Pferdeknecht. Unter Pferdeleuten herrschen wunderbares Einvernehmen und Freizügigkeit. Wenn Sie einer von ihnen sind, werden Sie bald alles wissen, was zu wissen ist. Ich habe Briony Lodge schnell gefunden. Ein Schmuckstück von einer Villa, mit einem rückwärtigen Garten, aber vorn bis an die Straße gebaut, zwei Stockwerke. Ein Chubb-Schloß[6] an der Tür. Rechts ein großer Wohnraum, gut möbliert, mit langen Fenstern fast bis zum Boden und diesen albernen englischen Fensterriegeln, die ein Kind öffnen könnte. Dahinter war nichts Bemerkenswertes, abgesehen davon, daß man das Korridorfenster vom Dach der Remise aus erreichen kann. Ich habe einen Rundgang gemacht und alles aus allen möglichen Blickwinkeln gründlich untersucht, konnte aber sonst nichts Interessantes feststellen.

Dann bin ich die Straße hinabgeschlendert und habe wie erwartet einen Pferdestall an einer Straße gefunden, die an einer der Gartenmauern verläuft. Ich habe den Stallburschen beim Abreiben der Pferde geholfen, und als Gegenleistung habe ich zwei Pence, ein Glas halb Porter halb Ale, zwei Pfeifen voll Shag und über Miss Adler so viele Informationen bekommen, wie ich mir nur wünschen konnte, ganz zu schweigen von einem halben Dutzend anderer Leute in der Nachbarschaft, an denen ich nicht im geringsten interessiert war, deren Biographien ich mir aber anhören mußte.«

»Und was ist mit Irene Adler?« fragte ich.

»Oh, die hat in der Gegend allen Männern den Kopf verdreht. Auf diesem Planeten ist sie das süßeste Ding, das eine Haube trägt. So heißt es im Serpentine-Stall, wie aus einem Mund. Sie führt ein ruhiges Leben, singt bei Konzerten, fährt jeden Tag um fünf Uhr aus und kommt Punkt sieben zurück zum Dinner. Zu anderen Zeiten geht sie selten aus, außer wenn sie singt. Sie hat nur einen männlichen Besucher, den aber oft. Er ist dunkelhaarig, hübsch und schneidig; er kommt nie seltener als einmal pro Tag und oft auch zweimal. Er ist ein Mr. Godfrey Norton, vom Gericht am Inner Temple. Sie sehen, wie gut es ist, einen Kutscher als Vertrauensmann zu haben. Sie haben ihn ein Dutzend Mal vom Serpentine-Stall nach Hause gefahren und wissen alles über ihn. Nachdem ich mir alles angehört hatte, was sie erzählen konnten, bin ich wieder in der Nähe von Briony Lodge auf und ab gegangen und habe mir meinen Schlachtplan zurechtgelegt.

Dieser Godfrey Norton ist offenbar ein wichtiger Faktor in der Angelegenheit. Er ist Anwalt. Das klingt ominös. Wie sieht ihre Beziehung aus, und was ist der Sinn seiner wiederholten Besuche? Ist sie seine Klientin, seine Freundin oder seine Maitresse? Im ersten Fall hat sie ihm vermutlich die Photographie zur Aufbewahrung übergeben, im letzten ist das weniger wahrscheinlich. Von der Beantwortung dieser Frage hing nun ab, ob ich meine Arbeit in Briony Lodge fortsetzen oder meine Aufmerksamkeit den Räumlichkeiten des Gentleman im Temple zuwenden sollte. Das war ein heikler Punkt, und er dehnte den Bereich meiner Nachforschungen aus. Ich fürchte, ich langweile Sie mit diesen Einzelheiten, aber ich muß Ihnen meine kleinen Schwierigkeiten vor Augen führen, damit Sie die Situation begreifen können.«

»Ich kann Ihnen ganz gut folgen«, antwortete ich.

»Ich war immer noch damit beschäftigt, die Sache im Geiste abzuwägen, als eine Droschke vor Briony Lodge vorfuhr und ein Gentleman heraussprang. Er war ein bemerkenswert gutaussehender Mann, dunkelhaarig, mit

Adlernase und Schnurrbart – augenscheinlich der Mann, von dem ich so viel gehört hatte. Er schien in großer Eile zu sein, rief dem Kutscher zu, er solle warten, und dann ist er an dem Mädchen, das die Tür öffnete, vorbeigestürmt wie einer, der sich sehr gut auskennt.

Er ist ungefähr eine halbe Stunde im Haus geblieben, und ich konnte ihn hin und wieder sehen, wie er hinter den Fenstern des Wohnraums auf und ab ging, erregt redete und mit den Armen fuchtelte. Dann kam er wieder heraus und sah noch gehetzter aus als zuvor. Als er zum Wagen ging, hat er eine goldene Uhr aus der Tasche gezogen und sie besorgt angesehen. ›Fahren Sie wie der Teufel‹, hat er gerufen, ›erst zu Gross and Hankey’s in der Regent Street und dann zur Kirche St. Monica in der Edgware Road. Eine halbe Guinee, wenn Sie es in zwanzig Minuten schaffen!‹

Damit sind sie losgebraust, und ich überlegte mir gerade, ob ich ihnen nicht besser folgen sollte, als ein hübscher kleiner Landauer die Straße heraufkam; der Kutscher hatte seine Jacke nur zur Hälfte zugeknöpft und die Krawatte saß unter dem Ohr, und alle Riemen starrten aus den Schnallen des Geschirrs heraus. Der Wagen stand noch nicht, als sie auch schon aus der Tür geschossen kam und einstieg. Ich habe in diesem Moment nur einen kurzen Blick auf sie werfen können, aber sie ist eine wunderschöne Frau, mit einem Gesicht, für das mancher Mann sein Leben hingäbe.


›Die St. Monica-Kirche, John‹, rief sie, ›und einen halben Sovereign, wenn wir in zwanzig Minuten dort sind.‹

Die Gelegenheit war zu gut, um sie verstreichen zu lassen, Watson. Ich habe noch überlegt, ob ich laufen oder hinten auf ihrem Landauer aufsitzen soll, als eine Mietdroschke die Straße herunterkam. Der Fahrer hat seinen schäbigen Fahrgast mißtrauisch angesehen, ich bin aber in den Wagen gesprungen, bevor er Einwände erheben konnte. ›Die St. Monica-Kirche‹, habe ich gesagt, ›und einen halben Sovereign, wenn Sie es in zwanzig Minuten schaffen.‹ Es war fünfundzwanzig Minuten vor zwölf, und natürlich war mir klar, was in der Luft lag.

Mein Kutscher ist sehr schnell gefahren. Ich glaube nicht, daß er jemals schneller gefahren ist, aber die anderen waren vor uns dort. Droschke und Landauer mit dampfenden Pferden standen vor der Tür, als ich ankam. Ich habe den Mann bezahlt und bin in die Kirche gestürzt. Keine Menschenseele war in der Kirche, außer den beiden, denen ich gefolgt war, und einem Priester im Chorhemd, der ihnen Vorhaltungen zu machen schien. Sie standen alle drei dicht zusammen vor dem Altar. Ich bin durch den Seitengang nach vorn geschlendert wie ein beliebiger Müßiggänger, der zufällig in eine Kirche hineinschaut. Zu meiner Überraschung drehen sich die drei am Altar plötzlich zu mir um, und Godfrey Norton kommt zu mir gestürmt, so schnell er kann.

›Gott sei Dank!‹ ruft er, ›Sie können uns helfen.

Kommen Sie! Kommen Sie!‹ ›Was gibt’s denn?‹ frage ich.

›Kommen Sie, Mann, kommen Sie, nur noch drei Minuten, sonst ist es nicht rechtsgültig.‹

Er hat mich förmlich zum Altar gezerrt, und bevor ich so recht wußte wo ich war, murmelte ich schon Antworten, die man mir ins Ohr flüsterte, und verbürgte mich für Dinge, von denen ich nichts wußte, und im übrigen half ich dabei, die Jungfer Irene Adler fest und sicher an den Junggesellen Godfrey Norton zu binden. Alles war im Nu erledigt, und da standen der Gentleman auf einer und die Lady auf der anderen Seite und dankten mir, und der Priester strahlte mich von vorn an. Es war die lächerlichste Situation, in der ich mich in meinem Leben je befunden habe, und beim Gedanken daran habe ich vorhin so gelacht. Anscheinend hatte es in ihren Papieren einen Formfehler gegeben, so daß der Priester sich kategorisch weigerte, sie ohne einen Zeugen zu vermählen, und mein glückliches Auftauchen hat den Bräutigam davor gerettet, einen Ausfall auf die Straße unternehmen und einen Brautführer suchen zu müssen. Die Braut hat mir einen Sovereign gegeben, und ich beabsichtige, ihn als Andenken an dieses Ereignis an meiner Uhrkette zu tragen.«

»Die Sache nimmt einen reichlich unerwarteten Verlauf«, sagte ich; »und was ist dann geschehen?«

»Nun ja, meine Pläne waren natürlich vom Scheitern bedroht. Es sah so aus, als könnte das Paar sich sofort auf eine Reise begeben, was umgehende und energische Maßnahmen meinerseits erfordert hätte. Sie trennten sich aber an der Kirchentür; er ist zurückgefahren zum Temple und sie zu ihrem Haus. ›Ich werde wie üblich um fünf im Park ausfahren‹, sagte sie, als sie von ihm wegging. Mehr habe ich nicht gehört. Sie sind in verschiedene Richtungen gefahren, und ich bin aufgebrochen, um meine eigenen Vorkehrungen zu treffen.«

»Welcher Art?«

»Kaltes Rindfleisch und ein Glas Bier«, antwortete er, wobei er die Glocke betätigte. »Ich war zu beschäftigt, um an Essen zu denken, und wahrscheinlich werde ich heute abend noch beschäftigter sein. Übrigens, Doktor, ich brauche Ihre Mitwirkung.«

»Mit dem größten Vergnügen.«

»Macht es Ihnen etwas aus, das Gesetz zu übertreten?«

»Nicht im mindesten.«

»Oder möglicherweise verhaftet zu werden?«

»Nicht wenn es für eine gute Sache ist.«

»Oh, es ist eine ganz ausgezeichnete Sache!«

»Dann bin ich dabei.«

»Ich war sicher, daß ich mich auf Sie würde verlassen können.«

»Aber was haben Sie denn vor?«

»Ich werde es Ihnen erklären, wenn Mrs. Turner das Tablett gebracht hat. – So«, sagte er, als er sich hungrig auf die einfache Mahlzeit stürzte, die unsere Wirtin beschafft hatte, »wir müssen das besprechen, während ich esse, ich habe nämlich nicht viel Zeit. Es ist jetzt fast fünf. In zwei Stunden müssen wir auf dem Schauplatz sein. Miss Irene, oder genauer Madame, kommt um sieben Uhr von ihrer Ausfahrt zurück. Wir müssen in Briony Lodge sein, um sie zu treffen.«

»Und was dann?«

»Das müssen Sie mir überlassen. Ich habe schon für alles Vorkehrungen getroffen. Es gibt nur einen Punkt, auf dem ich bestehen muß. Sie dürfen sich nicht einmischen, ganz gleich, was geschieht. Haben Sie das verstanden?«

»Ich soll unbeteiligt bleiben?«

»Sie sollen gar nichts tun. Vermutlich werden sich einige kleine Unfreundlichkeiten ereignen. Halten Sie sich heraus. Es wird damit enden, daß man mich ins Haus schleppt. Vier oder fünf Minuten später wird sich das Fenster des Wohnraums öffnen. Sie sollen sich nahe bei diesem offenen Fenster aufhalten.«


»Ja.«

»Und Sie sollten mich im Auge behalten, denn Sie werden mich sehen können.«

»Ja.«

»Und wenn ich meine Hand hebe – so –, werden Sie etwas in den Raum werfen, was ich Ihnen gebe, und gleichzeitig werden Sie ›Feuer‹ rufen. Können Sie mir folgen?«

»Ich kann.«

»Es ist nichts besonders Großartiges«, sagte er; er nahm eine längliche, zigarrenförmige Walze aus der Tasche. »Das ist eine gewöhnliche Rauchpatrone, wie Klempner sie zum Aufspüren von Rohrbrüchen benutzen, auf jeder Seite eine Kappe zur Selbstzündung. Das ist alles, was Sie zu tun haben. Wenn Sie ›Feuer‹ rufen, wird eine ganze Menge Leute in den Schrei einstimmen. Danach können Sie zum Ende der Straße gehen, und ich werde innerhalb von zehn Minuten zu Ihnen stoßen. Ich hoffe, ich habe mich verständlich ausgedrückt?«

»Ich soll unbeteiligt bleiben, in die Nähe des Fensters kommen, Sie im Auge behalten und auf Ihr Zeichen hin diesen Gegenstand in den Raum werfen, dann ›Feuer‹ schreien und an der Straßenecke auf Sie warten.«

»Ganz genau.«

»Wenn das alles ist, können Sie sich voll und ganz auf mich verlassen.«

»Ausgezeichnet. Ich glaube, es ist fast an der Zeit, mich auf meine neue Rolle vorzubereiten.«

Er verschwand in seinem Schlafgemach und kam einige Minuten später als freundlicher und einfältig dreinblickender nonkonformistischer Geistlicher[7] zurück. Sein breiter schwarzer Hut, die ausgebeulten Hosen, das weiße Beffchen, das sympathische Lächeln und der allgemeine Ausdruck spähender und wohlwollender Neugier ließen ihn wie die Bilderbuchausgabe eines betulichen Priesters erscheinen. Nicht, daß Holmes nur seine Kleidung gewechselt hätte. Sein Ausdruck, seine Haltung, ja seine Seele schien sich mit jeder neuen Rolle, in die er schlüpfte, zu verändern. Die Bühne verlor einen prächtigen Schauspieler und die Wissenschaft verlor einen scharfen Denker, als er zum Verbrechensexperten wurde.

Es war Viertel nach sechs, als wir aus dem Haus in der Baker Street gingen, und zehn vor sieben, als wir Serpentine Avenue erreicht hatten. Die Abenddämmerung war bereits gefallen und man zündete gerade die Lampen an, während wir vor Briony Lodge auf und ab wanderten und auf die Heimkehr der Bewohnerin warteten. Das Haus war genau so, wie ich es mir nach Sherlock Holmes’ bündiger Beschreibung vorgestellt, doch schien die Lage weniger abgeschieden zu sein, als ich erwartet hatte. Im Gegenteil: Für eine kleine Straße in ruhiger Gegend war sie auffallend lebhaft. Eine Gruppe schäbig gekleideter Männer rauchte und lachte an einer Ecke, da war ein Scherenschleifer mit seinem Schleifstein, zwei Gardisten schäkerten mit einem Kindermädchen, und mehrere gutgekleidete junge Männer mit Zigarren schlenderten hin und her.

»Sie sehen«, bemerkte Holmes, während wir vor dem Haus auf und ab gingen, »diese Eheschließung vereinfacht die Sache entschieden. Damit wird die Photographie zu einer zweischneidigen Waffe. Es besteht die Möglichkeit, daß die Dame ebenso dagegen ist, daß Mr. Godfrey Norton das Bild sieht, wie unser Klient dagegen ist, daß es seiner Prinzessin zu Augen kommt. Nun ist allerdings die

Frage: Wo können wir die Photographie finden?«

»Ja, das stimmt. Wo?«

»Es ist nicht wahrscheinlich, daß sie sie bei sich trägt. Sie ist fast so groß wie eine Postkarte. Zu groß, um irgendwo in der Kleidung einer Frau versteckt zu werden. Sie weiß, daß der König imstande ist, ihr auflauern und sie durchsuchen zu lassen. Zwei derartige Versuche sind schon unternommen worden. Wir können also wohl davon ausgehen, daß sie sie nicht bei sich trägt.«

»Wo hat sie sie denn dann?«

»Bei ihrem Bankier oder ihrem Anwalt. Diese doppelte Möglichkeit gibt es. Ich glaube aber eher, daß keine von beiden zutrifft. Frauen sind von Natur aus Geheimniskrämer, und sie möchten ihre Geheimnisse für sich behalten. Warum sollte sie das Bild jemandem übergeben? Sich selbst kann sie vertrauen, aber sie könnte niemals sicher sein, daß nicht indirekt oder politisch Einfluß auf einen Geschäftsmann ausgeübt wird. Und denken Sie außerdem daran, daß sie sich entschlossen hat, das Bild innerhalb der nächsten Tage zu verwenden. Es muß an einer Stelle sein, an der sie es sofort findet. Es muß in ihrem eigenen Haus sein.«

»Aber da ist doch zweimal eingebrochen worden.« »Pah! Die wissen nicht, wie man gründlich sucht.«

»Und wie wollen Sie suchen.«

»Ich werde nicht suchen.«

»Was denn?«

»Ich werde sie dazu bringen, es mir zu zeigen.«

»Sie wird sich bestimmt weigern.«

»Das wird sie gar nicht können. Aber ich höre Räder rattern. Das ist ihr Wagen. Führen Sie nun bitte meine Anweisungen buchstabengetreu aus.«

Noch während er sprach, kam das Leuchten der Seitenlampen einer Kutsche um die Biegung der Avenue. Es war ein ansehnlicher kleiner Landauer, und er ratterte bis zur Tür von Briony Lodge. Als der Wagen zum Stehen kam, stürzte einer der herumlungernden Männer von der Ecke vor, um die Tür zu öffnen, in der Hoffnung, eine Kupfermünze zu verdienen; er wurde jedoch von einem anderen Faulenzer beiseitegestoßen, der in der gleichen Absicht zum Wagen gerannt war. Ein heftiger Streit brach aus, der noch größere Ausmaße annahm, weil die beiden Gardisten sich auf die Seite eines der Lungerer schlugen und der Scherenschleifer sich mit gleicher Hitzigkeit auf die andere stellte. Schläge wurden ausgeteilt, und innerhalb eines Augenblicks war die Dame, die aus der Kutsche gestiegen war, der Mittelpunkt eines Knäuels zornroter, kämpfender Männer, die einander wild mit Fäusten und Stöcken bearbeiteten. Holmes stürzte sich in die Menge, um die Dame zu schützen; genau in dem Moment jedoch, da er sie erreichte, stieß er einen Schrei aus und stürzte zu Boden, und Blut strömte über sein Gesicht. Bei seinem Sturz zahlten die Gardisten Fersengeld nach der einen, die Lungerer nach der anderen Seite, wogegen eine Anzahl besser gekleideter Leute, die dem Handgemenge zugesehen hatten, ohne sich zu beteiligen, sich nun herandrängten, um der Dame zu helfen und sich um den verletzten Mann zu kümmern. Irene Adler, wie ich sie immer noch nennen will, war die Stufen hinaufgeeilt; nun jedoch stand sie oben auf der Treppe und blickte zurück zur Straße, und ihre herrliche Gestalt war umrissen von der Beleuchtung der Eingangshalle.


»Ist der arme Gentleman schlimm verletzt?« fragte sie. »Er ist tot«, riefen mehrere Stimmen.

»Nein, nein, er lebt noch«, schrie eine andere. »Aber er wird hinüber sein, bevor man ihn ins Hospital bringen kann.«

»Er ist ein tapferer Kerl«, sagte eine Frau. »Wenn er nicht gewesen wäre, dann hätten sie die Börse und die Uhr der Lady bekommen. Das muß eine Bande gewesen sein, und rauh außerdem. Ah, er atmet noch.«

»Er kann nicht hier auf der Straße liegen bleiben. Können wir ihn reinbringen, Ma’m?«

»Natürlich. Bringen Sie ihn in den Wohnraum. Da steht ein bequemes Sofa. Hier entlang, bitte!«

Langsam und feierlich trugen sie ihn nach Briony Lodge hinein und legten ihn im großen Raum nieder, während ich die Vorgänge weiterhin von meinem Posten beim Fenster aus beobachtete. Die Lampen waren angezündet worden, aber man hatte die Gardinen nicht zugezogen, so daß ich Holmes auf der Couch liegen sehen konnte. Ich weiß nicht, ob er in diesem Moment Gewissensbisse wegen der von ihm gespielten Rolle verspürte, ich weiß aber, daß ich mich in meinem ganzen Leben nie so sehr geschämt habe wie in diesem Augenblick, als ich das wunderschöne Geschöpf sah, gegen das ich konspirierte, und die Anmut und Güte, mit der die Frau sich um den verletzten Mann kümmerte. Und dennoch wäre es der finsterste Verrat an Holmes gewesen, wenn ich mich nun von der mir anvertrauten Aufgabe fortgestohlen hätte. Ich verschloß mein Herz und zog die Rauchpatrone unter meinem Ulster hervor. Wenigstens, dachte ich bei mir, fügen wir ihr keinen Schaden zu. Wir hindern sie nur daran, einem anderen zu schaden.

Holmes hatte sich auf der Couch aufgerichtet, und ich sah ihn gestikulieren wie einen, der keine Luft bekommt. Ein Dienstmädchen stürzte ans Fenster und riß es auf. Im gleichen Augenblick sah ich, wie er die Hand hob, und auf das Zeichen hin warf ich mit dem Schrei »Feuer« meine Patrone in den Raum. Ich hatte das Wort noch kaum gerufen, als auch schon die ganze Menge der Zuschauer, gut und schlecht Gekleidete – Gentlemen, Stallknechte und Dienstmädchen – allesamt »Feuer« zu schreien begannen. Dicke Rauchwolken bildeten sich im Raum und quollen aus dem Fenster. Undeutlich sah ich eilende Gestalten, und einen Augenblick später hörte ich Holmes’ Stimme im Haus, wie sie alle damit beruhigte, daß es ein falscher Alarm sei. Ich schlüpfte durch die rufende Menge und begab mich zur Straßenecke, und zehn Minuten später fühlte ich zu meiner Erleichterung den Arm meines Freundes in meinem, und wir entfernten uns von der Szene des Aufruhrs. Einige Minuten lang schritt Holmes schnell aus und schwieg, bis wir in eine der ruhigen Straßen eingebogen waren, die zur Edgware Road führen.

»Das haben Sie sehr gut gemacht, Doktor«, bemerkte er.

»Es hätte nicht besser sein können. Alles ist in Ordnung.«

»Dann haben Sie die Photographie?«

»Ich weiß, wo sie ist.«

»Und wie haben Sie das herausgefunden?«

»Sie hat sie mir gezeigt, wie ich es Ihnen vorausgesagt habe.«

»Ich begreife noch immer nichts.«

»Ich will kein Geheimnis daraus machen«, sagte er lachend. »Die Sache war ganz einfach. Sie haben natürlich sofort gesehen, daß alle auf der Straße Komplizen waren.

Ich hatte sie alle für diesen Abend engagiert.«

»So viel hatte ich mir gedacht.«

»Als dann das Durcheinander losging, hatte ich ein wenig feuchte rote Farbe in der Handfläche. Ich bin losgerannt, gestürzt, habe die Hand vors Gesicht geschlagen und wurde zu einem erbarmungswürdigen Anblick. Das ist ein alter Trick.«

»Auch das habe ich noch durchschaut.«


»Dann hat man mich hineingetragen. Sie mußte mich natürlich ins Haus holen. Was hätte sie sonst tun können? Und in ihren Wohnraum, und das ist genau der Raum, den ich in Verdacht hatte. Das heißt, dieser oder ihr Schlafraum, und ich war entschlossen, herauszufinden, welcher es war. Man hat mich auf eine Couch gelegt, ich habe so getan, als bekäme ich keine Luft, sie mußten das

Fenster öffnen und das war Ihre Gelegenheit.«

»Inwiefern hat Ihnen das geholfen?«

»Das war das Wichtigste überhaupt. Wenn eine Frau glaubt, ihr Haus stehe in Flammen, dann läßt ihr Instinkt sie zuerst zu dem Objekt laufen, das sie am höchsten schätzt. Dieser Impuls ist unwiderstehlich, und ich habe mehr als nur einmal meinen Nutzen daraus gezogen. Im Fall des Skandals um die Darlington-Unterschiebung hat er mir genutzt, und ebenso in der Sache Answorth Castle. Eine verheiratete Frau greift nach ihrem Baby – eine unverheiratete nach ihrer Schmuckschatulle. Nun war mir klar, daß unsere heutige Dame nichts für sie Kostbareres im Haus hatte als das, was wir suchen. Sie würde also loslaufen, um es in Sicherheit zu bringen. Der Feueralarm war hervorragend gemacht. Der Rauch und das Geschrei reichten völlig aus, um auch Nerven aus Stahl zu erschüttern. Sie hat wunderbar reagiert. Die Photographie befindet sich in einer Höhlung hinter einer beweglichen Täfelung, gerade oberhalb des rechten Glockenzugs. Sie war im Nu da, und ich konnte einen Blick auf das Bild erhaschen, als sie es halb aus dem Versteck zog. Als ich dann rief, daß es ein falscher Alarm gewesen sei, hat sie es wieder zurückgesteckt, die Patrone angestarrt, dann ist sie aus dem Raum gestürzt, und seither habe ich sie nicht gesehen. Ich bin aufgestanden, habe mich entschuldigt und das Haus verlassen. Ich habe überlegt, ob ich nicht sofort versuchen sollte, das Bild in Sicherheit zu bringen; inzwischen war aber der Kutscher hereingekommen, und da er mich mißtrauisch beobachtet hat, schien es mir besser, zu warten. Ein wenig Übereiltheit kann alles ruinieren.« »Und nun?« fragte ich.

»Unsere Aufgabe ist fast erledigt. Ich werde morgen mit dem König dort vorsprechen, mit Ihnen zusammen, wenn Sie mit uns kommen mögen. Man wird uns in den Wohnraum führen, wo wir auf die Lady warten können, aber es steht zu vermuten, daß sie, wenn sie kommt, weder uns noch die Photographie antrifft. Es könnte Seiner Majestät eine besondere Befriedigung sein, das Bild eigenhändig wiederzubeschaffen.«

»Und wann wollen Sie dort vorsprechen?«

»Um acht Uhr morgens. Sie wird noch nicht aufsein, wir werden also freies Spiel haben. Außerdem müssen wir schnell sein, denn diese Heirat könnte eine völlige Umstellung in ihrem Leben und ihren Gewohnheiten bedeuten. Ich muß unverzüglich dem König drahten.«

Wir hatten die Baker Street erreicht und waren vor der Tür stehengeblieben. Er suchte in seinen Taschen nach dem Schlüssel, als ein Passant sagte:

»Gute Nacht, Mister Sherlock Holmes.«


Zu dieser Zeit waren mehrere Leute auf dem Gehweg, aber der Gruß schien von einem schmächtigen Jüngling in einem Ulster zu kommen, der an uns vorbeigeeilt war.

»Die Stimme habe ich schon einmal gehört«, sagte Holmes; er starrte die undeutlich erhellte Straße hinab. »Also, ich wüßte gern, wer zum Teufel das gewesen sein mag.«

Ich schlief diese Nacht in der Baker Street, und wir saßen bei unserem Toast und Kaffee, als der König von Böhmen ins Zimmer gestürmt kam.

»Sie haben das Bild wirklich!« rief er; er packte Sherlock Holmes an beiden Schultern und starrte aufgeregt in sein Gesicht.

»Noch nicht.«

»Aber Sie sind hoffnungsvoll?«

»Das bin ich.«

»Dann kommen Sie; ich kann es kaum erwarten.«

»Wir brauchen eine Droschke.«

»Nein, mein Wagen wartet unten.«

»Das vereinfacht die Sache.«

Wir gingen hinab und machten uns abermals auf den Weg zu Briony Lodge.

»Irene Adler ist verheiratet«, bemerkte Holmes.

»Verheiratet! Seit wann?«

»Seit gestern.«

»Mit wem denn nur?«

»Mit einem englischen Anwalt namens Norton.«

»Sie kann ihn aber doch nicht lieben?«

»Ich hoffe doch sehr, daß sie es tut.«

»Und warum hoffen Sie?«

»Weil das Majestät von aller Furcht vor künftiger Behelligung befreien würde. Wenn die Dame ihren Gatten liebt, liebt sie Majestät nicht. Wenn sie Majestät nicht liebt, gibt es keinen Grund, weshalb sie sich in die Pläne von Majestät einmischen sollte.«

»Das stimmt. Und dennoch –! Nun gut! Ich wollte, sie wäre meines eigenen Standes gewesen! Welch eine Königin sie abgegeben hätte!« Er fiel in melancholisches Schweigen, das nicht gebrochen wurde, bis wir die Serpentine Avenue erreicht hatten.

Die Tür von Briony Lodge war offen, und eine ältere Frau stand auf den Stufen. Sie betrachtete uns mit einem sardonischen Gesichtsausdruck, während wir aus dem Coupé stiegen. »Mr. Sherlock Holmes, nehme ich an?« sagte sie.

»Ich bin Mr. Holmes«, antwortete mein Gefährte; er musterte sie fragend und fast erschrocken.

»Aha! Meine Herrin hat mir gesagt, Sie würden wahrscheinlich vorbeikommen. Sie ist heute früh, zusammen mit Ihrem Gemahl, mit dem Zug 5 Uhr 15 ab Charing Cross zum Kontinent abgereist.«

»Was!« Sherlock Holmes fuhr zurück, blaß von Schrecken und Überraschung. »Wollen Sie damit sagen, sie hat England verlassen?«

»Und sie wird nie zurückkommen.«

»Und die Papiere?« fragte der König heiser. »Alles ist verloren.«

»Wir werden sehen.« Er drängte sich an der Dienerin vorbei und lief in den Wohnraum, gefolgt vom König und mir. Die Möbel standen überall durcheinander, mit leeren Borden und offenen Schubladen, als hätte die Dame sie vor ihrer Flucht in größter Eile geplündert. Holmes stürzte zum Klingelzug, riß eine kleine Klappe auf, steckte die Hand in die Höhlung und zog eine Photographie und einen Brief heraus. Die Photographie zeigte Irene Adler persönlich im Abendkleid, und der Brief trug die Aufschrift »An Sherlock Holmes, Esq. Liegenlassen, bis er abgeholt wird.« Mein Freund riß den Umschlag auf, und alle drei lasen wir den Brief gemeinsam. Er war mit der vergangenen Mitternacht datiert und lautete wie folgt:

Mein lieber Mr. Sherlock Holmes,

Sie haben es wirklich sehr gut angestellt. Sie haben mich vollständig überrumpelt. Bis nach dem Feueralarm hatte ich nicht den geringsten Verdacht. Als ich dann aber bemerkte, daß ich mich selbst verraten hatte, begann ich nachzudenken. Ich war bereits vor Monaten vor Ihnen gewarnt worden. Man hatte mir gesagt, daß der König, sollte er einen Agenten beauftragen, sicherlich Sie wählen würde. Und man gab mir Ihre Adresse. Trotz alledem brachten Sie mich dazu, Ihnen das zu offenbaren, was Sie wissen wollten. Selbst nachdem ich mißtrauisch geworden war, fiel es mir schwer, über so einen lieben, netten alten Geistlichen Schlechtes zu denken. Aber wie Sie wissen, habe ich selbst auch eine Schauspielausbildung genossen. Ein Männerkostüm ist mir nichts Neues. Ich mache mir oft die Freiheit zunutze, die es verleiht. Ich schickte den Kutscher John hinein, um auf Sie aufzupassen, lief nach oben, schlüpfte in meine Wanderkleider, wie ich sie nenne, und kam wieder hinab, gerade als Sie aus dem Haus gingen.

Nun, dann bin ich Ihnen bis zu Ihrer Tür gefolgt, und so habe ich mich versichert, daß ich tatsächlich Objekt des Interesses des gefeierten Mr. Sherlock Holmes war. Danach habe ich Ihnen, reichlich unvorsichtig, eine gute Nacht gewünscht und mich zum Temple begeben, um meinen Gemahl aufzusuchen.

Wir kamen beide zu dem Schluß, angesichts der Verfolgung durch einen so furchterregenden Gegner sei Flucht die beste Lösung; Sie werden also das Nest leer vorfinden, wenn Sie morgen vorbeikommen. Was die Photographie angeht, so mag Ihr Klient unbesorgt sein. Ein besserer Mann als er liebt mich, und ich liebe ihn. Der König mag tun, was ihm am besten scheint, ohne Anfechtung durch eine, die er grausam und ungerecht behandelt hat. Ich habe das Bild nur aufbewahrt, um mich zu schützen und eine Waffe zu behalten, die mich stets gegen alle Schritte absichern wird, die er in der Zukunft unternehmen könnte. Ich hinterlasse eine Photographie, die er vielleicht gern besäße; und ich verbleibe, lieber Mr. Sherlock Holmes, ganz die Ihre

IRENE NORTON née ADLER

»Welch eine Frau – oh, welch eine Frau!« rief der König von Böhmen, als wir alle dieses Schreiben gelesen hatten. »Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß sie schnell und entschlossen ist? Hätte sie nicht eine prachtvolle Königin abgegeben? Ist es nicht ein Jammer, daß sie nicht vom gleichen niveau ist wie ich?«

»Nach allem, was ich von der Dame gesehen habe, scheint sie wirklich von einem ganz anderen niveau zu sein als Ihre Majestät«, sagte Holmes kalt. »Ich bedaure sehr, daß ich nicht in der Lage gewesen bin, den Auftrag Ihrer Majestät zu einem erfolgreicheren Ende zu bringen.«

»Im Gegenteil, mein lieber Sir«, rief der König. »Ich könnte mir keinen größeren Erfolg denken. Ich weiß, daß sie ihr Wort nie brechen wird. Die Photographie ist nun so sicher, als ob sie im Feuer wäre.«

»Ich freue mich, zu hören, daß Majestät die Sache so sehen.«

»Ich stehe tief in Ihrer Schuld. Bitte sagen Sie mir, wie ich es Ihnen vergelten kann. Dieser Ring …« Er streifte einen gewundenen Smaragdring vom Finger, legte ihn auf seine Handfläche und hielt ihn empor.

»Majestät haben etwas, das ich für noch wertvoller hielte«, sagte Holmes.

»Sie brauchen es nur zu nennen.«

»Diese Photographie.«

Der König starrte ihn verblüfft an.

»Irenes Photographie!« rief er. »Natürlich, wenn Sie es so haben wollen.«

»Ich danke Ihnen, Majestät. Dann gibt es in dieser Sache nichts mehr zu tun. Ich habe die Ehre, Ihnen einen besonders guten Morgen zu wünschen.« Er verneigte sich und wandte sich ab, ohne die Hand zu beachten, die ihm der König entgegenstreckte, und mit mir zusammen machte er sich auf den Weg zu seiner Wohnung.


Und so hatte ein großer Skandal über das Königreich Böhmen zu kommen gedroht, und so ist Sherlock Holmes’ beste Planung durch die Klugheit einer Frau vereitelt worden. Er pflegte sich einstmals über weibliche Schlauheit lustig zu machen, aber seither habe ich derlei nicht mehr bei ihm gehört. Und wenn er von Irene Adler spricht oder auf ihre Photographie verweist, dann immer unter dem ehrenden Titel die Frau.
 
[1] »Sodawasser« – im Original gasogene: zweiteiliges Glasgefäß; die obere Kammer wurde mit Säurekristallen und Karbonaten gefüllt; das entstehende Gas entwich in die wassergefüllte untere Kammer. – Vorläufer des Soda-Syphon.

[2] Der Satz des Briefes, dessen Wortstellung Holmes als typisch deutsch ansieht, lautet im Original: »This account of you we have from all quarters received«; korrekt müßte er lauten »… we have received from …«. Bei der Analyse des Papiers finden sich »Gesellschaft« und »Papier« auf deutsch; vgl. hierzu auch Edit. Notiz.

[3] »ein skandinavischer König« – im Original »the King of Scandinavia«. Während diese und einige andere Kleinigkeiten (so Sigismund statt Sigismond) behebbar waren, mußte Doyles Phantasiestaat Böhmen (1547–1918 österreichisch; die Wiederherstellung einer selbständigen böhmischen Krone gehörte 1863 zu den tschechischen Forderungen an Österreich) bestehen bleiben.

[4] Das Format der Photographie ist im Original »cabinet«.

[5] »die zwei von mir an anderer Stelle aufgezeichneten Verbrechen« – gemeint sind die Romane Eine Studie in Scharlachrot (1887) und Das Zeichen der Vier (1890). Ein Skandal in Böhmen war die dritte Veröffentlichung eines Holmes-Abenteuers.

[6] »Chubb-Schloß« – nach dem Erfinder, einem engl. Mechaniker, benanntes Sicherheitsschloß, »bei dem mehrere um eine Achse drehbare Zuhaltungen den Riegel nur frei lassen, wenn der treppenartig profilierte Schlüsselbart jede bis zu bestimmter Höhe emporhebt« (Brockhaus, 1926).

[7] »nonkonformistischer Geistlicher« – protestantischer Geistlicher außerhalb der anglikanischen Kirche.


Die Liga der Rotschöpfe



An einem Tag im Herbst letzten Jahres besuchte ich meinen Freund Sherlock Holmes und fand ihn vertieft in ein Gespräch mit einem sehr stämmigen, älteren Gentleman mit blühender Gesichtsfarbe und feurig rotem Haar. Ich wollte mit einer Entschuldigung ob meines Eindringens sogleich wieder gehen, doch zerrte Holmes mich jäh in den Raum hinein und schloß die Tür hinter mir.

»Sie hätten unmöglich zu einer besseren Zeit kommen können, mein lieber Watson«, sagte er herzlich.

»Ich dachte, Sie seien beschäftigt.«

»Das bin ich auch. Sehr sogar.«

»Dann will ich gern im Nebenzimmer warten.«

»Das kommt nicht in Frage. Dieser Gentleman, Mr. Wilson, ist bei vielen meiner erfolgreichsten Fälle mein Partner und Helfer gewesen, und ich zweifle nicht daran, daß er mir auch in Ihrem Fall überaus nützlich sein wird.«

Der stämmige Gentleman erhob sich zur Hälfte aus seinem Sessel, nickte grüßend und warf mir aus seinen kleinen, von Fettkringeln umgebenen Augen einen schnellen, fragenden Blick zu.

»Nehmen Sie das Sofa«, sagte Holmes; er ließ sich wieder in seinen Lehnsessel sinken und legte die Fingerspitzen aneinander, wie gewöhnlich, wenn er in scharfem Denken begriffen war. »Ich weiß, mein lieber Watson, daß Sie meine Liebe für alles Bizarre teilen, das außerhalb der Konventionen und des Alltagseinerleis liegt. Ihr Gefallen daran haben Sie durch die Begeisterung gezeigt, mit der Sie viele meiner kleinen Abenteuer aufgezeichnet und, wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben, gern auch ausgeschmückt haben.«

»Ihre Fälle haben wirklich immer mein größtes Interesse gefunden«, bemerkte ich.

»Sie werden sich daran erinnern, daß ich vor einiger Zeit, kurz bevor wir uns mit dem sehr einfachen Problem beschäftigten, das uns Miss Mary Sutherland[1] vorlegte, angemerkt habe, daß jemand, der merkwürdige Vorfälle und außergewöhnliche Zusammenfügungen haben will, sich dem Leben selbst zuwenden muß, das immer viel kühner ist als alle Höhenflüge der Phantasie.«

»Eine Behauptung, die anzuzweifeln ich mir erlaubt habe.«

»So ist es, Doktor, aber trotzdem müssen Sie sich zu meiner Ansicht bequemen; andernfalls werde ich Tatsachen über Tatsachen auf Sie häufen, bis Ihr Verstand darunter zusammenbricht und zugibt, daß ich recht habe. Nun hat heute morgen Mr. Jabez Wilson hier die Freundlichkeit besessen, mich aufzusuchen, und begonnen, mir eine Geschichte zu erzählen, die eine der ausgefallensten zu sein verspricht, die ich seit langem vernommen habe. Sie haben sicher meine Feststellung gehört, daß die seltsamsten und einzigartigen Dinge sehr oft nicht mit den großen, sondern mit den kleineren Verbrechen zusammenhängen oder gelegentlich sogar dort zu finden sind, wo man bezweifeln darf, daß ein eindeutiges Verbrechen überhaupt begangen worden ist. Soweit ich bis jetzt gehört habe, ist es mir unmöglich, zu sagen, ob im vorliegenden Fall ein Verbrechen vorliegt oder nicht, aber der Ablauf der Ereignisse gehört gewiß zu den seltsamsten Dingen, denen ich je gelauscht habe. Vielleicht hätten Sie die große Güte, Mr. Wilson, mit Ihrer Erzählung noch einmal von vorn zu beginnen. Ich bitte Sie darum nicht nur, weil mein Freund Dr. Watson den Beginn nicht gehört hat, sondern auch, weil die Eigentümlichkeit Ihrer Geschichte mich wünschen läßt, jede nur denkbare Einzelheit aus Ihrem Munde zu erfahren. In der Regel bin ich imstande, wenn ich erst einige einfache Hinweise auf den Ablauf der Dinge erhalten habe, mich selbst darin zurechtzufinden, und zwar mit Hilfe der tausende ähnlicher Fälle, deren ich mich entsinne. Im vorliegenden Fall muß ich jedoch zugeben, daß die Tatsachen, soweit ich dies glaube beurteilen zu können, einmalig sind.«

Mit einem Anflug von leisem Stolz wölbte der stattliche Klient seine Brust und zog eine schmutzige, zerknüllte Zeitung aus der Innentasche seines Paletots. Während er die Spalte mit Annoncen überflog, mit vorgestrecktem Kopf und auf den Knien ausgebreiteter Zeitung, sah ich mir den Mann gründlich an und versuchte, nach der Art meines Gefährten das zu lesen, was seine Kleidung oder sein Äußeres an Hinweisen enthalten mochten.

Ich gewann jedoch nicht viel durch meine Prüfung. Unser Besucher wies alle Kennzeichen eines durchschnittlichen, normalen britischen Geschäftsmannes auf: beleibt, wichtigtuerisch, behäbig. Er trug ziemlich ausgebeulte, grauweiß karierte Wollhosen, einen nicht übermäßig sauberen, vorn aufgeknöpften Gehrock, eine mausgraue Weste mit einer kurzen schweren Uhrkette aus Messing und einem viereckigen, durchbohrten Metallstück, das zur Zierde daran baumelte. Ein abgeschabter Zylinder und sein ausgeblichen brauner Mantel mit runzligem Samtkragen lagen auf einem Stuhl neben ihm. So genau ich auch hinsehen mochte, alles in allem war an diesem Mann nichts besonders bemerkenswert, abgesehen von seinem feuerroten Schopf und dem auf seinen Zügen liegenden Ausdruck von großem Kummer und Unzufriedenheit.

Sherlock Holmes’ schnelles Auge nahm meine Beschäftigung wahr, und lächelnd schüttelte er den Kopf, als er meine fragenden Blicke bemerkte. »Neben den offensichtlichen Tatsachen, daß er zu irgendeiner Zeit mit seinen Händen gearbeitet hat, daß er Tabak schnupft, daß er Freimaurer ist, daß er in China war und daß er in der letzten Zeit sehr viel geschrieben hat, kann ich nichts deduzieren.«

Mr. Jabez Wilson fuhr in seinem Sessel auf; sein Zeigefinger lag auf der Zeitung, seine Augen jedoch auf meinem Gefährten.

»Wie um alles in der Welt können Sie das wissen, Mr. Holmes?« fragte er. »Woher wissen Sie zum Beispiel, daß ich mit den Händen gearbeitet habe? Es ist so wahr wie die Bibel, ich habe als Schiffszimmermann angefangen.«

»Ihre Hände, mein lieber Sir. Ihre rechte Hand ist um einiges größer als Ihre linke. Sie haben mit ihr gearbeitet, und die Muskeln sind besser entwickelt.«


»Gut, und der Schnupftabak, und die Freimaurerei?«

»Ich will Ihre Intelligenz nicht dadurch beleidigen, daß ich Ihnen erzähle, woran ich das ablesen kann, vor allem da Sie, wohl eher gegen die strikten Weisungen Ihres Ordens, eine Brosche mit Bogen und Zirkel tragen.«

»Ah, natürlich, das hatte ich vergessen. Aber die Schreibarbeit?«

»Was sonst könnte es bedeuten, daß Ihr rechter Ärmelaufschlag bis fast fünf Zoll oberhalb des Handgelenks so glänzt und daß der linke Ärmel am Ellenbogen da glatt ist, wo Sie den Arm auf den Tisch stützen?«

»Nun gut, aber China?«

»Ein Fisch, wie Sie ihn unmittelbar über dem rechten Handgelenk tätowiert tragen, kann nur in China verfertigt worden sein. Ich habe mich ein wenig mit Tätowierungen beschäftigt und sogar einen Beitrag zur Literatur über dieses Thema geleistet. Diese Art, die Fischschuppen zartrosa zu tönen, ist nur in China üblich. Wenn ich zusätzlich dazu eine chinesische Münze an Ihrer Uhrkette hängen sehe, wird die Sache noch einfacher.«

Mr. Jabez Wilson lachte betroffen. »Also, das hätte ich nicht für möglich gehalten!« sagte er. »Zuerst habe ich gemeint, Sie tun da etwas besonders Schlaues, aber jetzt sehe ich, daß gar nichts dabei ist.«

»Ich beginne zu fürchten, Watson«, sagte Holmes, »daß ich einen Fehler begehe, indem ich erkläre.Omne ignotum pro magnifico[2], Sie wissen ja, und meine bescheidene Reputation, wenn es sie denn gibt, wird Schiffbruch erleiden, wenn ich so aufrichtig bin. Können Sie die Anzeige nicht finden, Mr. Wilson?«

»Doch, hier habe ich sie endlich«, erwiderte er; sein dicker rötlicher Finger zeigte auf eine Stelle etwa in der Mitte der Spalte. »Da ist sie. Damit hat alles angefangen. Sie müssen das selbst lesen, Sir.«

Ich nahm die Zeitung aus seinen Händen und las das Folgende:

An die Liga der Rotschöpfe – In Zusammenhang mit dem Vermächtnis des verstorbenen Ezekiah Hopkins aus Lebanon, Penn, U.S.A., ist nun eine weitere Stelle zu besetzen, die ein Mitglied der Liga für rein symbolische Dienste zu einem Wochenlohn von vier Pfund berechtigt. Alle rotschöpfigen Männer, die körperlich und geistig gesund und älter als einundzwanzig Jahre sind, kommen hierfür in Frage. Bewerben Sie sich persönlich am Montag, um elf Uhr, bei Duncan Ross in den Geschäftsräumen der Liga, 7 Pope’s Court, Fleet Street.

»Was um alles in der Welt soll das bedeuten?« rief ich aus, nachdem ich diese außergewöhnliche Ankündigung zweimal durchgelesen hatte.

Holmes kicherte und rutschte in seinem Sessel hin und her, wie er es gewöhnlich tat, wenn er bester Laune war. »Das ist ein wenig außerhalb des Üblichen, nicht wahr?« sagte er. »Und nun, Mr. Wilson, schießen Sie los und erzählen Sie uns alles über sich, Ihren Haushalt, und die Auswirkung, die diese Anzeige auf Ihr Leben hatte. Zuerst aber, Doktor, merken Sie sich Zeitung und Datum.«

»Es ist die Morning Chronicle vom 27. April 1890.

Nur knapp zwei Monate alt[3]

»Sehr gut. Nun, Mr. Wilson?«

»Also, es ist genau, wie ich es Ihnen erzählt habe, Mr. Sherlock Holmes«, sagte Jabez Wilson. Er wischte sich die Stirn. »Ich habe eine kleine Pfandleihe am Coburg Square, in der Nähe der City. Es ist nichts besonders Großes, und in den letzten Jahren hat es nicht mehr abgeworfen als eben meinen Lebensunterhalt. Früher konnte ich mir einmal zwei Assistenten leisten, jetzt nur noch einen; und auch ihn könnte ich nicht bezahlen, wenn er nicht bereit wäre, für den halben Lohn zu arbeiten, um das Geschäft zu erlernen.«


»Wie heißt dieser entgegenkommende junge Mann?« fragte Sherlock Holmes.

»Sein Name ist Vincent Spaulding, und so jung ist er auch nicht mehr. Sein Alter ist schwer zu schätzen. Einen fähigeren Assistenten könnte ich mir nicht wünschen, Mr. Holmes, und ich weiß sehr wohl, daß er sich verbessern und mindestens das Doppelte von dem verdienen könnte, was ich ihm zahlen kann. Aber was tut’s? Wenn er zufrieden ist, warum sollte ich ihm dann Rosinen in den Kopf setzen?«

»Das ist richtig, warum auch? Sie scheinen sehr viel

Glück zu haben mit einem Angestellten, der unter dem Marktpreis arbeitet. Das ist in dieser Zeit nicht eben eine verbreitete Erfahrung unter Arbeitgebern. Ich bin nicht sicher, ob Ihr Assistent nicht ebenso bemerkenswert ist wie Ihre Anzeige.«

»Oh, er hat auch seine Fehler«, sagte Mr. Wilson. »Noch nie hat es einen derartigen Liebhaber der Photographie gegeben. Er knipst mit seiner Kamera herum, statt wichtigere Dinge zu lernen, und dann taucht er in den Keller wie ein Kaninchen ins Loch, um seine Bilder zu entwickeln. Das ist sein Hauptfehler; aber insgesamt arbeitet er gut. Er hat keine Laster.«

»Ich nehme an, er ist noch immer bei Ihnen?«

»Ja, Sir. Er und ein vierzehnjähriges Mädchen, das ein wenig kocht und saubermacht – das ist alles, was ich im Hause habe, ich bin nämlich Witwer, und Familie habe ich nie gehabt. Wir leben sehr ruhig, wir drei; wir haben ein Dach über dem Kopf und zahlen unsere Schulden, wenn wir auch sonst nicht viel tun.

Was uns zuallererst verblüfft hat, war diese Anzeige. Spaulding ist heute vor genau acht Wochen mit dieser Zeitung hier in der Hand in den Laden gekommen und sagt: ›Bei

Gott, ich wünschte, ich wäre ein Rotschopf, Mr. Wilson.‹ ›Warum?‹ frage ich.

›Warum?‹ sagt er. ›Hier, da ist schon wieder eine Stelle bei der Liga der Rotschöpfigen Männer frei. Wer die Stelle bekommt, kann ein nettes Vermögen dabei machen, und soviel ich weiß gibt es mehr freie Stellen als Männer, deshalb wissen die Treuhänder nicht mehr, wohin mit dem Geld. Wenn sich mein Haar nur verfärben wollte, da ist ein schönes gemachtes Bett, in das ich mich gern legen würde.‹

›Was ist denn nun damit?‹ frage ich. Wissen Sie, Mr. Holmes, ich bin ein sehr häuslicher Mann, und weil mein Geschäft zu mir kommt, statt daß ich zu ihm gehen muß, habe ich oft wochenlang den Fuß nicht aus dem Haus gesetzt. Deswegen weiß ich nicht viel über das, was draußen passiert, und bin immer froh über ein paar Neuigkeiten.

›Haben Sie denn noch nie von der Liga der Rothaarigen Männer gehört?‹ fragt er mich mit aufgerissenen Augen.

›Nie.‹

›Also, das verblüfft mich, Sie kommen doch selbst für eine der freien Stellen in Frage.‹


›Und was sind die wert?‹ frage ich.

›Oh, nur ein paar hundert im Jahr, aber die Arbeit ist leicht und braucht einen nicht bei dem zu stören, was man sonst zu tun hat.‹

Sie können sich wohl denken, daß ich die Ohren gespitzt habe, weil mein Geschäft seit einigen Jahren nicht besonders gut war und ein paar hundert extra hätte ich sehr gut gebrauchen können.

›Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen‹, sage ich.

›Hier‹, sagt er und zeigt mir die Anzeige, ›da können Sie selbst sehen, daß die Liga eine Stelle frei hat, und da ist die Adresse, wo Sie nach Einzelheiten fragen sollten. Soweit ich das feststellen kann, ist die Liga von einem amerikanischen Millionär, Ezekiah Hopkins, gegründet worden, der reichlich seltsame Gewohnheiten hatte. Er war selbst rothaarig und hatte große Sympathie für alle Rotschöpfe; als er gestorben ist, hat man herausgefunden, daß er sein ganzes riesiges Vermögen Treuhändern hinterlassen hat mit der Anweisung, die Zinsen zu verwenden, um Männern mit dieser Haarfarbe gute und gemütliche Posten zu verschaffen. Nach allem, was ich gehört habe, ist die Bezahlung sehr gut, und man braucht nicht viel zu tun.‹

›Aber‹, sage ich, ›es gibt doch bestimmt Millionen von Rotschöpfen, die sich da bewerben.‹

›Nicht so viele, wie man glauben könnte‹, sagt er. ›Sehen Sie, das Angebot gilt nur für Londoner, und für Erwachsene. Dieser Amerikaner war aus London aufgebrochen, als er jung war, und er wollte dem lieben alten Ort etwas Gutes tun. Außerdem habe ich gehört, man braucht sich nicht erst zu bewerben, wenn man hellrotes oder dunkelrotes und sonst ein anderes Haar als wirklich leuchtendes, flammendes, feuerrotes hat. Also, wenn Sie sich da bewerben würden, Mr. Wilson, dann hätten Sie die Stelle, aber vielleicht ist es für Sie die Mühe nicht wert, für ein paar hundert Pfund Ihre gewohnte Umgebung zu verlassen.‹

Nun ist es, wie Sie selbst sehen können, Gentleman, eine Tatsache, daß mein Haar eine sehr volle, kräftige Farbe hat, deshalb dachte ich, daß ich eine genauso gute Chance wie jeder, den ich je getroffen habe, hätte, wenn es in der Sache einen Wettbewerb geben sollte. Vincent Spaulding schien so viel darüber zu wissen, daß ich mir gedacht habe, er könnte von Nutzen sein, und deshalb habe ihm sofort befohlen, für den Tag die Fensterläden anzubringen und gleich mit mir zu kommen. Er war sehr für einen freien Tag zu haben, also haben wir den Laden geschlossen und uns auf den Weg zu der Anschrift gemacht, die in der Anzeige stand.

Ich hoffe, nie wieder solch einen Anblick zu sehen, Mr. Holmes. Von Norden, Süden, Osten und Westen waren alle Männer mit einem Anflug von Rot im Haar in die City gekommen, um sich auf die Anzeige zu bewerben. Die Fleet Street war von Rotschöpfen verstopft, und Pope’s Court sah aus wie der Verkaufswagen eines Orangenhändlers. Ich hätte nie geglaubt, daß es im ganzen Land so viele Rotschöpfe gibt, wie da wegen dieser einen Anzeige zusammengebracht worden waren. Sie hatten alle möglichen Farbtöne – Stroh, Zitrone, Orange, Ziegel, irischer Hühnerhund, Leber, Tonerde; aber wie Spaulding gesagt hatte, gab es nicht viele, die die richtige, lebendige, flammendrote Farbe hatten. Als ich gesehen habe, wie viele da warteten, hätte ich am liebsten die Hoffnung aufgegeben, aber Spaulding wollte nichts davon wissen. Ich habe keine Ahnung, wie er es geschafft hat, aber er hat gezogen und gestoßen und gerempelt, bis er mich durch die Menge gebracht hatte, und dann gleich die Treppe hinauf, die zu dem Büro führt. Auf der Treppe war ein doppelter Strom – einige gingen hoffnungsvoll hinauf, andere kamen niedergeschlagen herunter, aber wir haben uns durchgedrängt so gut es ging, und bald waren wir im Büro.«

»Ihre Erlebnisse sind ausgesprochen unterhaltsam«, bemerkte Holmes, als sein Klient eine Pause machte und sein Gedächtnis mittels einer großen Prise Schnupftabaks auffrischte. »Bitte, fahren Sie fort mit Ihrem sehr interessanten Bericht.«

»In dem Büro war nichts außer ein paar Holzstühlen und einem Verkaufstisch, hinter dem ein kleiner Mann saß, mit einem Schopf, der noch röter war als meiner. Er hat mit jedem Kandidaten, der an die Reihe kam, ein paar Worte gewechselt, und dann hat er immer irgendeinen Fehler an ihnen gefunden, der sie ausschloß. So einfach schien es dann doch nicht zu sein, an die freie Stelle zu kommen. Als wir an die Reihe gekommen sind, war der kleine Mann mir gegenüber aber wohlwollender als zu irgendeinem der anderen, und als wir eingetreten waren, hat er die Tür geschlossen, um ungestört mit uns reden zu können.

›Das ist Mr. Jabez Wilson‹, sagt mein Assistent, ›und er ist bereit, eine freie Stelle in der Liga aufzufüllen.‹

›Und er ist bestens dazu geeignet‹, antwortet der andere. ›Er erfüllt alle Voraussetzungen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals etwas so Schönes gesehen zu haben.‹ Er geht einen Schritt zurück, legt seinen Kopf auf die Seite und starrt mein Haar an, bis ich ganz verlegen werde. Dann ist er plötzlich vorwärts gesprungen, hat mir die Hand geschüttelt und mir sehr freundlich zu dem Erfolg gratuliert.

›Es wäre ungerecht, zu zögern‹, sagt er. ›Trotzdem werden Sie mir sicher verzeihen, daß ich eine verständliche Vorsichtsmaßnahme treffe.‹ Damit packt er mich mit beiden Händen am Haar und zieht, bis ich vor Schmerzen schreie. ›Sie haben Wasser in den Augen‹, sagt er, als er mich losläßt. ›Ich sehe, alles ist, wie es sein sollte. Aber wir müssen uns vorsehen, wir sind nämlich schon zweimal mit Perücken und einmal mit Farbe getäuscht worden. Ich könnte Ihnen Geschichten von Schusterpapp erzählen, die

Sie mit Abscheu vor der menschlichen Natur erfüllen würden.‹ Dann ist er zum Fenster gegangen und hat, so laut er konnte, hinausgeschrien, daß die freie Stelle besetzt ist. Von unten kam ein Stöhnen der Enttäuschung, und die ganzen Leute haben sich in alle Himmelsrichtungen davongemacht, bis außer meinem und dem des Geschäftsführers kein roter Schopf mehr zu sehen war.

›Ich bin Mr. Duncan Ross‹, sagt er, ›und ich selbst bin einer derjenigen, die aus dem Fonds, den unser edler Wohltäter hinterlassen hat, ein Gehalt beziehen. Sind Sie verheiratet, Mr. Wilson? Haben Sie Familie?‹ Ich antworte ihm, daß ich keine habe.

Sein Gesicht wird sogleich düster.

›Liebe Güte!‹ sagt er ernst, ›das ist schlimm! Ich bin sehr traurig, das zu hören. Der Fonds war natürlich gedacht für die Fortsetzung und Verbreitung von Rotschöpfen und ihren Unterhalt. Es ist sehr traurig, daß Sie Junggeselle sind.‹

Ich habe natürlich ein langes Gesicht gemacht, Mr. Holmes, weil ich dachte, ich würde die freie Stelle am Ende doch nicht bekommen; aber nachdem er es sich ein paar Minuten überlegt hatte, sagte er, es ginge in Ordnung.

›Bei einem anderen‹, sagt er, ›wäre das ein entscheidendes Hindernis, aber bei einem Mann mit einem Schopf, wie Sie ihn haben, muß man schon einmal fünf gerade sein lassen. Wann werden Sie sich Ihren neuen

Pflichten widmen können?‹

›Nun, das ist ein bißchen schwierig, weil ich nämlich schon ein Geschäft habe‹, sage ich.

›Oh, machen Sie sich deswegen keine Sorgen‹, Mr. Wilsons, sagt Vincent Spaulding. ›Darum werde ich mich schon für Sie kümmern.‹

›Wie sehen meine Dienstzeiten aus?‹ frage ich. ›Zehn bis zwei.‹


Nun macht ein Pfandleiher seine Geschäfte meistens am Abend, Mr. Holmes, vor allem donnerstags und freitags, vor dem Zahltag; es würde mir also gut zupaß kommen, an den Vormittagen ein wenig zu verdienen. Außerdem wußte ich, daß mein Assistent ein guter Mann ist und sich um alles kümmert, das anfallen kann.

›Das ist mir sehr recht‹, sage ich. ›Und die Bezahlung?‹

›Vier Pfund pro Woche.‹

›Und die Arbeit?‹

›Ist rein symbolisch.‹

›Was nennen Sie rein symbolisch?‹

›Nun, Sie müssen die ganze Zeit im Büro oder wenigstens im Gebäude zubringen. Wenn Sie es verlassen, geben Sie Ihre gesamte Stellung für immer auf. Das Testament ist in dieser Beziehung sehr klar. Sie erfüllen die Bedingungen nicht, wenn Sie sich in dieser Zeit aus dem Büro rühren.‹

›Es sind ja nur vier Stunden am Tag, und ich denke nicht daran, in dieser Zeit zu gehen‹, sage ich.

›Alle Entschuldigungen wären zwecklos‹, sagt Mr. Duncan Ross, ›weder Krankheit noch Geschäft noch sonst etwas. Sie müssen dableiben, oder Sie verlieren

Ihre Stellung.‹

›Und die Arbeit?‹

›Besteht daraus, aus der Encyclopedia Britannica abzuschreiben. In dem Schrank da liegt der erste Band. Tinte, Federn und Löschpapier müssen Sie sich selbst beschaffen, aber wir stellen diesen Tisch und diesen Stuhl zur Verfügung. Können Sie morgen anfangen?‹ ›Natürlich‹, sage ich.

›Dann good-bye, Mr. Jabez Wilson, und erlauben Sie, daß ich Sie nochmals zu der wichtigen Stellung beglückwünsche, die Sie so glücklich errungen haben.‹ Er hat mich höflich aus dem Raum geleitet, und ich bin zusammen mit meinem Assistenten heimgegangen; ich wußte kaum, was ich sagen oder tun sollte, so zufrieden war ich mit meinem glücklichen Los.

Dann habe ich den ganzen Tag lang über die Sache nachgedacht, und abends war ich wieder in bedrückter Stimmung, denn ich hatte mir selbst eingeredet, daß die ganze Angelegenheit ein großer Scherz oder Schwindel sein mußte, obwohl ich mir nicht denken konnte, was man damit bezwecken mochte. Es erschien mir gänzlich unglaublich, daß jemand solch ein Testament machen oder solch eine Summe für eine so einfache Arbeit, wie die Encyclopedia Britannica abschreiben, bezahlen sollte. Vincent Spaulding hat getan, was er konnte, um mich aufzuheitern, aber als es Zeit war, ins Bett zu gehen, hatte ich mir die ganze Sache, aus dem Kopf geschlagen. Am Morgen war ich jedoch entschlossen, mir jedenfalls alles anzusehen, also habe ich für einen Penny eine kleine Flasche Tinte gekauft und mich mit einem Federkiel und sieben Blatt Kanzleipapier nach Pope’s Court auf den Weg gemacht.

Zu meiner Überraschung und Freude war aber alles so, wie es nicht besser sein konnte. Der Tisch stand für mich bereit, und Mr. Duncan Ross war anwesend, um dafür zu sorgen, daß ich gut in die Arbeit hineinkam. Er hat mich mit dem Buchstaben A anfangen lassen, und dann ist er gegangen, aber er wollte von Zeit zu Zeit hineinschauen, um sicher zu sein, daß mit mir alles in Ordnung war. Um zwei Uhr hat er mir einen guten Tag gewünscht, mir Komplimente wegen der Menge gemacht, die ich geschrieben hatte, und dann hinter mir die Bürotür abgeschlossen.

So ging es Tag für Tag, Mr. Holmes, und am Samstag kam der Geschäftsführer und hat mir für meine Wochenarbeit vier goldene Sovereigns auf den Tisch gelegt. Genau so war es in der nächsten Woche und auch in der Woche danach. Jeden Morgen war ich um zehn Uhr da, und jeden Nachmittag bin ich um zwei Uhr gegangen. Nach und nach gewöhnte sich Mr. Duncan Ross daran, nur noch einmal am Vormittag hereinzukommen, und nach einiger Zeit kam er überhaupt nicht mehr. Natürlich habe ich trotzdem nie gewagt, den Raum auch nur für einen Augenblick zu verlassen, weil ich nicht sicher war, ob er nicht doch kommen würde, und die Stellung war so schön und paßte mir so gut, daß ich es nicht riskieren wollte, sie zu verlieren.

So vergingen acht Wochen, und ich hatte über Äbte und Arkaden und Armenrecht und Architektur und Attika geschrieben, und ich hoffte zuversichtlich, daß ich bald zu den Bs kommen würde. Das hatte mich einiges an Büttenpapier gekostet, und mit meinem Geschreibe hatte ich ein Regalbord fast gefüllt. Und dann war plötzlich alles zu Ende.«

»Zu Ende?«

»Ja, Sir. Und zwar genau heute früh. Ich bin wie üblich um zehn Uhr zu meiner Arbeit gegangen, aber die Tür war zu und verschlossen, und ein kleines viereckiges Pappschild war auf die Tür genagelt. Hier ist es, und Sie können es selbst lesen.«

Er hielt ein Stück weißer Pappe hoch, etwa so groß wie ein Blatt Notizpapier. Es lautete wie folgt:

DIE LIGA DER ROTSCHÖPFE IST AUFGELÖST

9. OKTOBER 1890

Sherlock Holmes und ich betrachteten diese knappe Mitteilung und das traurige Gesicht dahinter, bis die komische Seite der Angelegenheit jede sonstige Erwägung restlos beiseite schob und wir beide in brüllendes Gelächter ausbrachen.


»Ich wüßte nicht, daß da irgend etwas komisch ist«, rief unser Klient; er errötete bis an die Wurzel seines flammenden Schopfes. »Wenn Sie nichts Besseres tun können als mich auslachen, kann ich genausogut anderswo hingehen.«

»Nein, nein«, rief Holmes und schob ihn zurück in den Sessel, aus dem er sich zur Hälfte erhoben hatte. »Ich möchte Ihren Fall um nichts in der Welt missen. Er ist überaus erfrischend ungewöhnlich. Aber, wenn Sie mir das zu sagen erlauben, es ist daran etwas, das ein klein wenig lustig ist. Bitte, welche Schritte haben Sie unternommen, als Sie die Mitteilung an der Tür gefunden hatten?«

»Ich war fassungslos, Sir. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Schließlich bin ich zum Hausbesitzer gegangen, einem Revisor, der im Erdgeschoß wohnt, und habe ihn gefragt, ob er mir vielleicht sagen könnte, was aus der Liga der Rotschöpfe geworden ist. Er sagte, er hätte nie von einer solchen Körperschaft gehört. Dann habe ich ihn gefragt, wer Mr. Duncan Ross ist. Er hat geantwortet, der Name sei ihm neu.

›Na‹, sage ich, ›der Gentleman in Nummer 4.‹

›Was, der Rotschopf?‹

›Ja.‹

›Oh‹, sagt er, ›sein Name war William Morris. Er ist

Anwalt und hat meine Räumlichkeiten vorübergehend benutzt, bis seine neue Kanzlei fertig ist. Er ist gestern ausgezogen.‹

›Wo könnte ich ihn finden?‹

›Na, in seinem neuen Büro. Er hat mir die Anschrift genannt. Ja, 17 King Edward Street, nahe St. Paul’s.‹

Ich bin sofort aufgebrochen, Mr. Holmes, aber als ich zu dieser Adresse kam, war es eine Manufaktur für künstliche Kniescheiben, und niemand dort hatte je weder von

Mr. William Morris noch von Mr. Duncan Ross gehört.« »Und was haben Sie dann getan?« fragte Holmes.

»Ich bin heimgegangen, zum Saxe-Coburg Square, und habe den Rat meines Assistenten eingeholt. Aber er konnte mir in keiner Weise helfen. Er konnte nur sagen, ich würde postalisch etwas hören, wenn ich nur Geduld hätte. Aber das war mir nicht genug, Mr. Holmes. Ich wollte eine so gute Stellung nicht kampflos aufgeben, und deshalb bin ich sofort zu Ihnen gekommen, weil ich gehört habe, daß Sie so gut sind, armen Leuten, die sie brauchen, Ratschläge zu geben.«

»Das war ein sehr kluger Entschluß von Ihnen«, sagte Holmes. »Ihr Fall ist über alle Maßen bemerkenswert, und es ist mir ein Vergnügen, mich damit zu befassen. Nach dem, was Sie mir erzählt haben, halte ich es für möglich, daß ernstere Dinge daran hängen, als man auf den ersten Blick denken könnte.«

»Ziemlich ernst«, sagte Jabez Wilson. »Ich habe nämlich vier Pfund die Woche verloren.«

»Soweit Sie persönlich betroffen sind«, meinte Holmes, »sehe ich für Sie keinen Grund, sich über diese außergewöhnliche Liga zu beklagen. Im Gegenteil – wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind Sie um etwa dreißig Pfund reicher geworden, ganz zu schweigen von den eingehenden Kenntnissen, die Ihnen über alle mit A beginnenden Themen zuteil geworden sind. Sie haben durch die Liga keinen Verlust erlitten.«

»Nein, Sir. Aber ich möchte herausbekommen, wer sie sind und welches Ziel sie hatten, als sie mir diesen Streich gespielt haben – wenn es ein Streich war. Für sie war es ein ziemlich teurer Spaß, er hat sie nämlich zweiunddreißig Pfund gekostet.«

»Wir werden versuchen, diese Fragen für Sie zu klären. Zunächst eine oder zwei Fragen dazu. Ihr Assistent, der Sie überhaupt erst auf die Anzeige aufmerksam gemacht hat – wie lange war er da bei Ihnen gewesen?«

»Damals ungefähr einen Monat.«

»Wie ist er zu Ihnen gekommen?«

»Auf eine Annonce hin.«

»War er der einzige Bewerber?«

»Nein, ich hatte ein Dutzend.«

»Warum haben Sie ihn genommen?«

»Weil er sehr geschickt war, und außerdem billig.«

»Er wollte nur den halben Lohn, nicht wahr?«

»Ja.«

»Erzählen Sie mir etwas über diesen Vincent Spaulding.«

»Er ist klein, stämmig, in allem sehr schnell, hat kein Haar im Gesicht, obwohl er nicht viel unter dreißig sein kann. Er hat ein weißes Säuremal auf der Stirn.«

Mit beträchtlicher Erregung richtete sich Holmes in seinem Sessel auf.

»Das hatte ich fast erwartet«, sagte er. »Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, ob seine Ohren wie für Ohrringe durchbohrt sind?«

»Ja, Sir. Er hat mir erzählt, daß ein Zigeuner das gemacht hat, als er noch ein Junge war.«

»Hmmm«, machte Holmes; gedankenschwer ließ er sich wieder in den Sessel sinken. »Er ist noch immer bei

Ihnen?«

»O ja, Sir; ich habe ihn eben erst verlassen.«

»Und hat er sich während Ihrer Abwesenheit um Ihr Geschäft gekümmert?«

»Kein Grund zur Klage, Sir. Vormittags ist da aber nie sehr viel zu tun.«

»Das hilft mir schon weiter, Mr. Wilson. Es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen innerhalb von einem Tag oder zweien ein Gutachten zu diesem Problem geben zu können. Heute ist Samstag, und ich hoffe, daß wir bis Montag zu einem Schluß gelangt sind.«

»Nun, Watson«, sagte Holmes, als unser Besucher uns verlassen hatte, »was halten Sie von der Sache?«

»Ich kann nichts damit anfangen«, antwortete ich freimütig. »Das ist eine ganz mysteriöse Geschichte.«

»In der Regel«, sagte Holmes, »stellt sich eine Sache, je bizarrer sie zu sein scheint, als desto weniger rätselhaft heraus. Es sind die gewöhnlichen Verbrechen ohne auffällige Züge, die am schwierigsten zu lösen sind, genau so, wie ein gewöhnliches Gesicht am schwierigsten zu identifizieren ist.

Aber diese Sache muß ich unverzüglich in Angriff nehmen.« »Was wollen Sie denn machen?« fragte ich.

»Rauchen«, erwiderte er. »Dies ist durchaus ein DreiPfeifen-Problem, und ich bitte Sie, die nächsten fünfzig Minuten nicht mit mir zu sprechen.« Er rollte sich in seinem Sessel zusammen, zog die dürren Knie bis zur Falkennase empor und blieb so sitzen, mit geschlossenen Augen, und die schwarze Tonpfeife ragte wie der Schnabel eines seltsamen Vogels hervor. Ich war zu dem Schluß gekommen, daß er eingeschlafen sein mußte, und begann eben selbst einzunicken, als er jäh aus seinem Sessel aufsprang, mit der Miene eines Mannes, der einen Entschluß gefaßt hat; er legte seine Pfeife auf den Kaminsims.


»Sarasate spielt heute nachmittag[4] in der St. James’ Hall«, bemerkte er. »Was meinen Sie, Watson? Können Ihre Patienten Sie ein paar Stunden entbehren?«

»Ich habe heute nichts zu tun. Meine Praxis nimmt mich nie sehr in Anspruch.«

»Dann setzen Sie Ihren Hut auf und kommen Sie. Ich will zuerst durch die City gehen, und unterwegs können wir einen Lunch zu uns nehmen. Wie ich sehe, besteht das Programm zum größten Teil aus deutscher Musik, die meinem Geschmack eher entspricht als italienische oder französische. Sie ist grüblerisch, und ich möchte grübeln. Kommen Sie!«

Wir fuhren mit der Untergrundbahn bis Aldersgate, und ein kurzer Fußmarsch brachte uns zum SaxeCoburg Square, dem Schauplatz der einzigartigen Geschichte, der wir morgens gelauscht hatten. Es war ein dumpfer, enger, schäbigfeiner Ort; vier Reihen trüber, zweistöckiger Ziegelhäuser blickten auf eine kleine, von Geländern umgebene Fläche, auf der ein von Unkraut durchsetzter Rasen und einige Grüppchen welker Lorbeerbäume schwer gegen eine rauchüberladene und unfreundliche Atmosphäre anzukämpfen hatten. Drei vergoldete Kugeln und ein braunes Schild an einem Eckhaus, auf dem in weißen Buchstaben Jabez Wilson stand, zeigten uns, wo unser rothaariger Klient seine Geschäfte machte. Sherlock Holmes blieb vor dem Haus stehen, legte den Kopf schief und sah sich alles gründlich an; zwischen halbgeschlossenen Lidern leuchteten seine Augen hell. Danach ging er langsam die Straße hinauf und dann wieder hinab bis zur Ecke und musterte weiter die Häuser. Schließlich kam er zum Haus des Pfandleihers zurück, und nachdem er mit seinem Stock zwei- oder dreimal heftig auf das Pflaster geschlagen hatte, ging er zur Tür und klopfte. Sogleich wurde sie von einem aufgeweckt dreinblickenden, glattrasierten jungen Mann geöffnet, der ihn aufforderte, einzutreten.

»Danke sehr«, sagte Holmes, »aber ich wollte Sie nur fragen, wie man von hier aus nach The Strand kommt.«

»Dritte rechts, vierte links«, antwortete der Assistent prompt und schloß die Tür wieder.

»Das ist ein gerissener Bursche«, bemerkte Holmes, als wir uns von dem Haus entfernten. »Meiner Meinung nach ist er der viertschlaueste Mann in London, und was Verwegenheit angeht, bin ich nicht sicher, ob er nicht Anspruch auf Platz Drei erheben kann. Ich habe von ihm schon einiges gehört.«


»Offenbar spielt Mr. Wilsons Assistent eine nicht unbeträchtliche Rolle in diesem Rätsel der Liga der Rotschöpfe«, sagte ich. »Ich schätze, Sie haben nur deshalb nach dem Weg gefragt, um ihn zu sehen.«

»Nicht ihn.«

»Was denn?«

»Die Knie seiner Hosen.«

»Und was haben Sie gesehen?«

»Was ich erwartet hatte.«

»Warum haben Sie auf das Pflaster geschlagen?«

»Mein lieber Doktor, dies ist nicht die Zeit für Gespräche, sondern für Beobachtungen. Wir sind Spione im Land des Feindes. Wir wissen einiges über den SaxeCoburg Square. Erforschen wir jetzt die Pfade, die dahinter liegen.«

Als wir am Ende des abgeschiedenen Saxe-Coburg Square um die Ecke bogen, befanden wir uns in einer Straße, die sich von dem Platz so sehr unterschied wie die Vorderseite eines Bildes von der Rückseite. Es war eine der Hauptschlagadern des Verkehrs von der City nach Norden und Westen. Die Fahrbahn war von den ungeheuren, gegenläufigen Gezeitenströmen des in die Stadt und aus ihr heraus fließenden Verkehrs überfüllt, und die Gehsteige waren schwarz von den wimmelnden Schwärmen der Fußgänger. Als wir die Reihen vornehmer Läden und stattlicher Geschäftshäuser betrachteten, konnten wir uns kaum vorstellen, daß auf ihrer Rückseite wirklich der welke, in der Zeit stehengebliebene Platz liegen sollte, den wir eben erst verlassen hatten.

»Nun wollen wir mal sehen«, sagte Holmes; er stand an der Straßenecke und blickte die Häuserfront entlang. »Ich möchte mir die Reihenfolge der Häuser hier genau einprägen. Es ist eines meiner Steckenpferde, London genau zu kennen. Mortimer, der Tabakhändler, der kleine Zeitungsladen, die Coburg-Filiale der City and Suburban Bank, das Vegetarische Restaurant, und das Lagerhaus von McFarlane, dem Wagenbauer. Da beginnt dann der nächste Block. Und nun, Doktor, haben wir unsere Arbeit getan, also ist es an der Zeit für ein wenig Spiel. Ein Sandwich und eine Tasse Kaffee, und dann auf ins Land der Geigen, wo alles Süße und Feinheit und Harmonie ist und keine rotschöpfigen Klienten uns mit Scherzfragen schikanieren.«

Mein Freund war ein begeisterter Musiker und selbst nicht nur ein sehr guter Geiger, sondern auch ein Komponist mit ansehnlichen Leistungen. Er brachte den ganzen Nachmittag in der Parkettloge zu, angetan mit der vollkommensten Heiterkeit; seine langen, schmalen Finger bewegten sich sanft im Takt der Musik, während sein milde lächelndes Gesicht und seine verträumt schmachtenden Augen denen von Holmes dem Spürhund, Holmes dem unerbittlichen, scharfsinnigen, zupackenden Kriminalisten so unähnlich waren, wie man es sich unähnlicher nicht vorstellen kann. Die zwei Wesen seines einzigartigen Charakters setzten sich abwechselnd durch, und seine äußerste Genauigkeit und Schlauheit stellten, wie ich oft bei mir überlegte, eine Reaktion auf die poetische und beschauliche Stimmung dar, die sich seiner gelegentlich bemächtigte. Der Pendelschlag seines Wesens trug ihn von äußerster Mattheit zu verzehrender Energie, und wie ich wohl wußte, war er nie furchtbarer, als wenn er tagelang in seinem Lehnsessel die Zeit zwischen Improvisationen auf der Geige und seinen alten Fraktur-Editionen vertändelt hatte. Dann mochte jählings das Jagdfieber ihn packen, und sein glänzendes Denkvermögen schwang sich zu den Höhen der Intuition auf, bis jene, die mit seinen Methoden nicht vertraut waren, ihn scheel ansahen, als einen Mann, dessen Kenntnisse nicht die anderer Sterblicher waren. Als ich ihn an diesem Nachmittag in der St. James’ Hall so völlig in Musik eingehüllt sah, fühlte ich, daß eine schlimme Zeit über jene zu kommen sich anschickte, die zur Strecke zu bringen er sich vorgenommen hatte.

»Sie wollen sicher nach Hause gehen, Doktor«, meinte er, als wir das Konzert verließen.

»Ja, das sollte ich wohl besser tun.«

»Und ich habe Arbeit, die zu erledigen einige Stunden in Anspruch nehmen wird. Diese Geschichte am Coburg

Square ist sehr ernst.«

»Inwiefern ernst?«

»Da ist ein großes Verbrechen in Vorbereitung. Ich habe gute Gründe für die Annahme, daß wir es noch rechtzeitig verhindern können. Aber daß heute Samstag ist, macht die Sache noch ein wenig verwickelter. Ich werde heute nacht Ihre Hilfe brauchen.«

»Zu welcher Zeit?«

»Zehn ist früh genug.«

»Ich werde um zehn in der Baker Street sein.«

»Sehr gut. Ach, übrigens, Doktor, es könnte ein wenig gefährlich werden, also seien Sie so gut und stecken Sie Ihren Armeerevolver ein.« Er winkte mir zu, wandte sich auf dem Absatz um und war im Nu in der Menge verschwunden.

Ich nehme an, daß ich nicht beschränkter bin als meine Mitmenschen, aber bei meinem Umgang mit Sherlock Holmes deprimierte mich doch immer das Gefühl meiner eigenen Dummheit. Da hatte ich nun gehört, was er gehört hatte, gesehen, was er gesehen hatte, und doch war aus seinen Worten ersichtlich, daß er nicht nur deutlich sah, was geschehen war, sondern auch, was erst geschehen sollte, während mir die ganze Angelegenheit immer noch verworren und grotesk erschien. Auf der Heimfahrt zu meinem Haus in Kensington überdachte ich alles, von der außerordentlichen Geschichte des rotschöpfigen Kopisten der Encyclopedia bis hin zum Besuch am SaxeCoburg Square und den ominösen Worten, mit denen sich Holmes von mir verabschiedet hatte. Was war mit dieser nächtlichen Expedition, und warum sollte ich bewaffnet sein? Wohin wollten wir gehen, um dort was zu tun? Ich hatte von Holmes den Hinweis erhalten, daß dieser glattgesichtige Assistent des Pfandleihers ein Mann sei, den man fürchten müsse – ein Mann, der ein dunkles Spiel spielen mochte. Ich zerbrach mir den Kopf, um es auszutüfteln, gab dann aber verzweifelt auf und ließ die Sache auf sich beruhen, in der Hoffnung darauf, daß die Nacht eine Erklärung bringen würde.

Es war Viertel nach neun, als ich von zu Hause aufbrach und mich auf den Weg durch den Park und über die Oxford Street zur Baker Street machte. Zwei zweisitzige Droschken standen vor der Tür, und als ich den Korridor betrat, hörte ich von oben Stimmen. Ich betrat seinen Raum und fand Holmes in angeregtem Gespräch mit zwei Männern vor, deren einen ich als den Polizeibeamten Peter Jones erkannte; der andere war ein langer, dürrer Mann mit traurigem Gesicht, glänzendem Hut und bedrückend respektablem Gehrock.


»Ha! Die Gesellschaft ist versammelt«, sagte Holmes; er knöpfte seine Seemannsjacke zu und nahm die schwere Jagdpeitsche aus dem Ständer. »Watson, ich glaube, Sie kennen Mr. Jones von Scotland Yard? Ich möchte Sie Mr. Merryweather vorstellen, der heute nacht bei unserem Abenteuer mit von der Partie sein wird.«

»Wir jagen wieder als Gespann, Doktor, wie Sie sehen«, sagte Jones in seiner wichtigtuerischen Art. »Unser Freund hier ist bestens geeignet, zur Jagd zu blasen. Er braucht nur einen gerissenen alten Hund, um die Hatz zu Ende zu bringen.«

»Ich hoffe, wir bringen nicht nur ein Hirngespinst zur Strecke«, bemerkte Mr. Merryweather düster.

»Sie können einiges Vertrauen auf Mr. Holmes setzen, Sir«, sagte der Polizeibeamte hochmütig. »Er hängt zwar an seinen eigenen netten Methoden, die – wenn er mir diese Äußerung nicht übelnimmt – ein klein wenig zu theoretisch und phantastisch sind, aber aus ihm könnte ein guter Detektiv werden. Man übertreibt nicht, wenn man feststellt, daß er ein- oder zweimal, wie in der Sache mit dem Sholto-Mord oder dem Schatz von Agra, fast besser war als die offizielle Polizei.«

»Oh, wenn Sie das sagen, Mr. Jones, dann ist es wohl in Ordnung«, meinte der Fremde nachgiebig. »Ich muß trotzdem gestehen, daß ich meine Whist-Partie vermisse.

Das ist der erste Samstagabend seit siebenunddreißig Jahren, an dem ich meinen Robber ausfallen lasse[5]

»Ich glaube, Sie werden feststellen«, sagte Sherlock Holmes, »daß Sie heute nacht um einen höheren Einsatz spielen als je zuvor und daß das Spiel sehr viel aufregender ist. Für Sie, Mr. Merryweather, stehen ungefähr dreißigtausend Pfund auf dem Spiel, und für Sie, Jones, der

Mann, den Sie in die Hände bekommen wollen.«

»John Clay, der Mörder, Dieb, Falschmünzer und Fälscher. Er ist noch jung, Mr. Merryweather, aber an der Spitze seiner Zunft, und ich würde lieber ihm Handschellen anlegen als jedem anderen Verbrecher in London. Ein bemerkenswerter Mann, der junge John Clay. Sein Großvater war ein Herzog von königlichem Geblüt, und er selbst war in Eton und Oxford. Mit dem Gehirn arbeitet er genauso gerissen wie mit den Fingern, und obwohl wir immer wieder Hinweise auf ihn finden, können wir an den Mann selbst doch nie herankommen. Er bringt es fertig, in der einen Woche in Schottland einen Einbruch zu verüben und in der nächsten in Cornwall Geld für den Bau eines Waisenhauses zu sammeln. Ich bin seit Jahren auf seiner Fährte und habe ihn nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen.«

»Ich hoffe, daß mir diese Nacht das Vergnügen zuteil wird, Sie beide einander vorzustellen. Auch ich habe schon ein- oder zweimal mit Mr. John Clay zu tun gehabt und stimme Ihnen zu: Er ist der Beste in seiner Profession. Es ist jetzt aber nach zehn und Zeit für uns, aufzubrechen. Wenn Sie beide bitte den ersten Zweisitzer nehmen, werden Watson und ich im zweiten folgen.«

Während der langen Fahrt war Sherlock Holmes nicht sehr mitteilsam; er lehnte sich im Wagen zurück und summte die Melodien, die er am Nachmittag gehört hatte. Wir ratterten durch ein endloses Labyrinth von Straßen mit Gasbeleuchtung, bis wir die Farringdon Street erreichten.

»Wir sind jetzt fast da«, bemerkte mein Freund. »Dieser Merryweather ist Bankdirektor und von der Sache persönlich betroffen. Ich war außerdem dafür, Jones mitzunehmen. Er ist kein schlechter Kerl, wenn auch in seinem Beruf ein absoluter Schwachkopf. Er hat eine entschiedene Tugend: Er ist tapfer wie eine Bulldogge und zäh wie ein Hummer, wenn er erst einmal jemanden in seine Klauen bekommt. Da sind wir, und sie warten schon auf uns.«

Wir hatten eben jene bevölkerte Hauptstraße erreicht, in der wir uns am Morgen aufgehalten hatten. Unsere Wagen wurden fortgeschickt, und unter der Führung von Mr. Merryweather durchquerten wir eine enge Gasse und traten durch eine Seitentür, die er für uns öffnete. Dahinter lag ein schmaler Korridor, der vor einem sehr massiven Eisentor endete. Auch dieses wurde geöffnet, und wir stiegen eine Flucht steinerner Wendeltreppen hinab, die vor einem weiteren mächtigen Tor endete. Mr. Merryweather blieb stehen und zündete eine Laterne an; dann führte er uns einen dunklen Gang hinab, der nach Erde roch, und nachdem er schließlich eine dritte Tür geöffnet hatte, gelangten wir in ein großes Gewölbe oder einen Keller. Überall standen Schachteln und schwere Kisten gestapelt.

»Von oben sind Sie nicht sehr verwundbar«, bemerkte Holmes. Er hielt die Laterne hoch und sah sich um.

»Von unten genauso wenig«, sagte Mr. Merryweather. Er stampfte mit seinem Stock auf die Fliesen des Bodens. »Oh, liebe Zeit, das klingt ja ganz hohl!« meinte er und sah verblüfft auf.

»Ich muß Sie wirklich bitten, ein wenig leiser zu sein«, sagte Holmes streng. »Sie haben jetzt schon den ganzen Erfolg unserer Expedition in Frage gestellt. Ich ersuche Sie hiermit, die Güte haben zu wollen, sich auf eine dieser Kisten zu setzen und sich nicht einzumischen.«


Der gravitätische Mr. Merryweather hockte sich auf eine Kiste und machte ein beleidigtes Gesicht, während Holmes, auf dem Boden niederkniete und mit der Laterne und einem Vergrößerungsglas die Ritzen zwischen den Steinen sehr gründlich zu untersuchen begann. Nach einigen Sekunden schien er schon zufrieden zu sein, denn er sprang auf und steckte das Glas ein.

»Wir haben noch mindestens eine Stunde Zeit«, bemerkte er. »Sie können nämlich kaum etwas unternehmen, bevor nicht der gute Pfandleiher im Bett liegt. Dann werden sie keine Zeit verlieren, denn je früher sie ihre Arbeit erledigen, desto länger haben sie Zeit für die Flucht. Im Moment, Doktor, befinden wir uns – wie Sie zweifellos erraten haben – im Keller der City-Filiale einer der wichtigsten Londoner Banken. Mr. Merryweather ist der Vorsitzende der Geschäftsleitung, und er wird Ihnen erklären, daß es Gründe gibt, aus denen die verwegensten Verbrecher Londons zur Zeit lebhaftes Interesse an diesem Keller haben.«

»Unser französisches Gold«, flüsterte der Direktor. »Wir haben mehrere Warnungen erhalten, daß jemand

versuchen könnte, an das Gold zu kommen.«

»Ihr französisches Gold?«

»Ja. Wir waren vor einigen Monaten veranlaßt, unsere

Mittel zu erhöhen und haben dazu dreißigtausend Napoléons[6] von der Bank von Frankreich geliehen. Man hat erfahren, daß wir noch keine Gelegenheit hatten, das

Geld umzupacken, und daß es noch immer in unserem Keller liegt. Die Kiste, auf der ich sitze, enthält zweitausend Napoléons, gepackt zwischen Schichten von Bleifolie. Unsere Goldreserven betragen zur Zeit viel mehr, als man normalerweise in einer einzigen Filiale aufbewahrt, und die Direktoren äußerten dazu ihre Bedenken.«

»Die sehr berechtigt waren«, bemerkte Holmes. »Und jetzt ist es an der Zeit, Vorkehrungen für die Ausführung unserer kleinen Pläne zu treffen. Ich nehme an, daß sich alles innerhalb der nächsten Stunde zuspitzen wird. In der Zwischenzeit, Mr. Merryweather, müssen wir die

Blende unserer Laterne betätigen.«

»Und im Dunkel sitzen?«

»Ich fürchte, ja. Ich hatte ein Kartenspiel mitgebracht und angenommen, da wir ja eine partie carrée darstellen, wir könnten Ihnen doch noch zu Ihrem Robber verhelfen. Ich stelle aber fest, daß die Vorbereitungen unseres Gegners so weit gediehen sind, daß wir ein Licht auf keinen Fall riskieren können. Und zuallererst müssen wir unsere Positionen wählen. Diese Männer sind verwegen, und wenn wir sie auch in einer Lage empfangen, die ihnen zum Nachteil gereicht, können sie uns doch einigen Schaden zufügen, wenn wir nicht vorsichtig sind. Ich will mich hinter dieser Kiste aufstellen, und verbergen Sie sich bitte hinter jenen dort. Wenn ich sie dann anstrahle, stürzen Sie sich bitte sofort auf sie. Falls sie feuern, dann haben Sie keine Bedenken, sie niederzuschießen, Watson.«

Ich legte meinen gespannten Revolver auf die Holzkiste, hinter der ich niederkauerte. Holmes schloß den Schieber an der Vorderseite seiner Laterne, und wir waren von pechschwarzer Dunkelheit umgeben – einer so vollkommenen Dunkelheit, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte. Der Geruch heißen Metalls erinnerte uns weiter daran, daß das Licht noch da war und innerhalb eines Augenblicks eingesetzt werden konnte. Meine erregten Nerven befanden sich auf einem Gipfel der Erwartung, daher hatten für mich die jähe Finsternis und die kalte, feuchte Luft im Gewölbe etwas Niederschlagendes und Bedrückendes.

»Sie haben nur eine Möglichkeit des Rückzugs«, flüsterte Holmes. »Und zwar durch das Haus zurück auf den Saxe-Coburg Square. Ich hoffe, Sie haben das getan, worum ich Sie gebeten habe, Jones?«

»Ich habe dafür gesorgt, daß ein Inspektor und zwei Schutzleute an der Vordertür warten.«

»Dann haben wir alle Löcher verstopft. Und nun müssen wir still sein und warten.«

Wie lang die Zeit wurde! Als wir hinterher unsere Aufzeichnungen verglichen, stellten wir fest, daß es nur eine Stunde und eine Viertelstunde gewesen waren, und doch erschien es mir, als müsse die Nacht fast verstrichen und die Morgendämmerung über uns bereits hereingebrochen sein. Meine Glieder waren müde und steif, da ich meine Stellung aus Vorsicht nicht verändern mochte, doch waren meine Nerven zum Zerreißen gespannt, und mein Gehör war so geschärft, daß ich nicht nur meine Gefährten leise atmen hörte, sondern sogar das tiefere, schwerere Einatmen des massigen Jones vom dünnen seufzenden Ton des Bankdirektors unterscheiden konnte. Von dort, wo ich mich befand, konnte ich über, die Kiste hinweg auf den Boden sehen. Plötzlich nahmen meine Augen das Schimmern eines Lichts wahr.

Zunächst war es nur ein fahler Fleck auf dem Steinboden. Dann wurde es länger, bis eine gelbe Linie daraus geworden war, und ohne jede Vorwarnung und ohne jedes Geräusch schien sich dann ein klaffender Spalt zu öffnen, und eine Hand erschien, eine weiße, beinahe weibliche Hand, die in der Mitte der kleinen hellen Fläche umhertastete. Etwa eine Minute oder länger ragte die Hand mit den sich windenden Fingern aus dem Boden. Dann wurde sie so plötzlich zurückgezogen, wie sie erschienen war, und alles war wieder dunkel, bis auf den einzelnen fahlen Fleck, der eine Ritze zwischen den Steinen kennzeichnete.

Das Verschwinden – der Hand war jedoch nur vorübergehend. Mit einem ziehenden, reißenden Geräusch kippte einer der breiten weißen Steine auf die Seite und hinterließ ein viereckiges, gähnendes Loch, durch welches das Licht einer Laterne strömte. Über die Kante spähte ein deutlich sichtbares, jungenhaftes Gesicht, das sich aufmerksam umblickte; mit einer Hand auf jeder Seite der Öffnung zog der Mann sich dann hoch bis zur Schulter und bis zur Hüfte und bis ein Knie den Rand berührte. Einen Augenblick später stand er neben dem Loch und zog einen Kumpanen nach, der ebenso beweglich und klein war wie er selbst, mit blassem Gesicht und einem Schopf sehr roten Haars.

»Alles klar«, flüsterte er. »Hast du die Brechstange und die Taschen? Großer Gott! Spring, Archie, spring; dafür werde ich hängen!«

Sherlock Holmes war vorgesprungen und hatte den Eindringling am Kragen gepackt. Der andere tauchte tief ins Loch, und ich hörte das Geräusch reißender Kleidung, als Jones an seinem Rock zerrte. Das Licht fiel auf einen Revolverlauf, aber Holmes’ Jagdpeitsche sauste auf das Handgelenk des Mannes hinab, und die Waffe klirrte auf den Steinboden.

»Es hat keinen Zweck, John Clay«, sagte Holmes mild; »Sie haben überhaupt keine Chance.«

»Das sehe ich«, sagte der andere mit äußerster Gelassenheit. »Ich nehme an, mein Kumpel ist entkommen, auch wenn Sie da, wie ich sehe, seine Rockschöße haben.«

»Auf ihn warten drei Mann an der Tür«, sagte Holmes.

»Ach, so ist das! Sie scheinen die Sache sehr gründlich gemacht zu haben. Ich muß Ihnen ein Kompliment machen.«

»Und ich Ihnen«, gab Holmes zurück. »Ihr Einfall mit den Rotschöpfen war sehr neu und wirkungsvoll.«

»Sie werden Ihren Kumpel bald wiedersehen«, sagte Jones. »Er ist beim Einsteigen in Löcher schneller als ich. Halten Sie still, während ich die Krampen festmache.«

»Bitte, berühren Sie mich nicht mit Ihren schmutzigen Händen«, bemerkte unser Gefangener, als die Handschellen um seine Gelenke schnappten. »Vielleicht ist es Ihnen nicht bekannt, daß ich königliches Blut in den Adern habe. Seien Sie auch so gut, wenn Sie mit mir sprechen, immer ›Sir‹ und ›bitte‹ zu sagen.«

»In Ordnung«, sagte Jones mit einem starren Blick und einer höhnischen Grimasse. »Also, würden Sie bitte, Sir, treppauf schreiten, wo wir einen Wagen bekommen können, um Eure Hoheit zur Polizeistation zu bringen?«

»Das ist besser«, sagte John Clay heiter. Mit einer schwungvollen Halbkreisbewegung verneigte er sich vor uns dreien und entfernte sich gelassen, im Gewahrsam des Detektivs.


»Also wirklich, Mr. Holmes«, sagte Mr. Merryweather, als wir ihnen aus dem Keller nach oben folgten,

»ich weiß nicht, wie die Bank Ihnen danken oder es Ihnen vergelten soll. Ohne jeden Zweifel haben Sie einen der entschlossensten Bankraubversuche aufgedeckt und aufs gründlichste vereitelt, von denen ich je erfahren habe.«

»Ich hatte selbst eine oder zwei kleine Rechnungen mit Mr. John Clay zu begleichen«, sagte Holmes. »Ich habe in dieser Angelegenheit einige kleine Unkosten gehabt und nehme an, daß die Bank sie mir erstatten wird, aber darüber hinaus fühle ich mich reichlich entlohnt durch eine Erfahrung, die in vieler Hinsicht einzigartig war, und dadurch, daß ich der sehr bemerkenswerten Erzählung von der Liga der Rotschöpfe lauschen konnte.«

»Wie Sie sehen, Watson«, erläuterte er in den frühen Morgenstunden, als wir in der Baker Street bei Whisky mit Soda saßen, »es war von Anfang an völlig offensichtlich, daß es das einzige mögliche Ziel dieser ziemlich phantastischen Geschichte mit der Anzeige der Liga und dem Abschreiben aus der Encyclopedia sein mußte, diesen nicht allzu hellen Pfandleiher jeden Tag ein paar Stunden aus dem Weg zu haben. Der Weg zu diesem Ziel war sehr merkwürdig, aber es wäre wirklich schwierig, einen besseren vorzuschlagen. Es war zweifellos die Haarfarbe seines Komplizen, die Clays einfallsreichem Geist diese Methode eingab. Die vier Pfund pro Woche waren ein Köder, der ihn anlocken mußte, und was bedeutete es schon für sie, die um tausende spielten? Sie haben die Anzeige aufgegeben; einer der Schurken sitzt im zeitweiligen Büro, der andere bringt den Mann dazu, sich für die Stellung zu bewerben, und gemeinsam gelingt es ihnen, dafür zu sorgen, daß er jeden Morgen eines Wochentags abwesend ist. Von dem Augenblick an, da ich hörte, daß der Assistent für den halben Lohn arbeitete, war es für mich offensichtlich, daß er ein starkes

Motiv hatte, sich diese Stellung zu sichern.«

»Aber wie konnten Sie erraten, welches das Motiv war?«

»Wenn Frauen im Haus gewesen wären, hätte ich eine ganz gewöhnliche Intrige vermutet. Das kam aber nicht in Frage. Der Mann hatte ein kleines Geschäft, und in seinem Haus gab es nichts, was solch ausgeklügelte Vorbereitungen und solche Kosten, wie sie sie hatten, gerechtfertigt hätte. Also mußte es etwas außerhalb des Hauses sein. Was konnte es sein? Ich dachte an den Hang des Assistenten zur Photographie und daran, daß er im Keller zu verschwinden pflegte. Der Keller! Das war das Ende dieses verwickelten Fadens. Dann habe ich Nachforschungen nach diesem mysteriösen Assistenten angestellt und herausgefunden, daß ich es mit einem der kaltblütigsten und verwegensten Verbrecher Londons zu tun hatte. Er tat etwas im Keller – etwas, das monatelang jeden Tag viele Stunden in Anspruch nahm. Also noch einmal – was konnte es sein? Ich konnte mir nichts anderes denken, als daß er einen Tunnel zu irgendeinem anderen Gebäude trieb.

So weit war ich gekommen, als wir den Schauplatz besichtigten. Sie waren überrascht, daß ich mit dem Stock auf das Pflaster schlug. Ich wollte feststellen, ob sich der Keller nach vorn oder nach hinten erstreckte. Nach vorn war es nicht. Dann habe ich geläutet, und wie ich gehofft hatte, öffnete der Assistent. Wir haben schon einige Scharmützel miteinander gehabt, aber zuvor hatten wir einander nie zu Gesicht bekommen. Sein Gesicht habe ich kaum beachtet. Seine Knie waren das, was ich sehen wollte. Sie müssen doch auch selbst gesehen haben, wie abgeschabt, faltig und schmutzig sie waren. Sie erzählten von den Stunden des Grabens. Nun blieb nur noch zu klären, wonach sie gruben. Ich ging um die Ecke, sah die City and Suburban Bank auf der Rückseite des Hauses unseres Freundes, und da wußte ich, daß ich mein Problem gelöst hatte. Als Sie nach dem Konzert heimgefahren sind, habe ich bei Scotland Yard und danach beim Vorsitzenden der Bankdirektoren vorgesprochen, mit dem Ihnen bekannten Ergebnis.«

»Und woher konnten Sie wissen, daß sie ihren Versuch heute nacht unternehmen würden?«

»Nun, als sie ihr Liga-Büro geschlossen haben, war das ein Zeichen, daß Mr. Jabez Wilsons Anwesenheit ihnen in Zukunft gleichgültig war; mit anderen Worten, daß sie ihren Tunnel vollendet hatten. Es war aber wichtig für sie, ihn bald zu verwenden, denn man konnte ihn entdecken, oder das Gold konnte fortgebracht werden. Der Samstag mußte ihnen besser gelegen sein als jeder andere Tag, weil er ihnen zwei Tage für ihre Flucht gab. Aus all diesen Gründen habe ich erwartet, daß sie heute nacht kommen würden.«

»Das haben Sie wunderschön ausgedacht«, rief ich voll ehrlicher Bewunderung aus. »Solch eine lange Kette, und doch stimmt jedes Glied.«

»Es hat mich vor der Langeweile bewahrt«, antwortete er gähnend. »Ach, ich fühle, wie sie sich schon wieder an mich heranmacht! Ich verbringe mein Leben in einem einzigen großen Versuch, den Gemeinplätzen des Daseins zu entrinnen. Diese kleinen Probleme helfen mir dabei.«

»Und Sie sind ein Wohltäter des Menschengeschlechts«, sagte ich.

Er zuckte mit den Schultern. »Nun ja, vielleicht ist es am Ende irgendwie nützlich«, meinte er. »›/¶homme Q¶est rien ± l¶°uvre tout‹, wie Gustave Flaubert an George Sand schrieb.«


 
[1] »Miss Mary Sutherland« – die Hauptperson von Eine Frage der Identität. Holmes-Forscher nehmen an, daß der Fall von Miss Sutherland am 18./19. Oktober 1887 seine Klärung fand, während das vorliegende Abenteuer sich wohl am Wochenende vom 29./30. Oktober 1887 abspielte. Seltsamerweise erschienen die beiden Erzählungen nicht in der chronologischen Reihenfolge.

[2] omne ignotum pro magnifico ± Holmes zitiert hier Tacitus im Sinne von »Was man nicht kapiert, hält man für besonders großartig«.

[3] »die Morning Chronicle vom 27. April 1890. Nur knapp zwei Monate alt.« Ja, da hat sich jemand vertan. Der 27. April 1890 war ein Sonntag, an dem keine Zeitungen erschienen, und zu Beginn seines Berichts sagt Watson, es sei Herbst. William S. Baring - der Herausgeber von The Annotated Sherlock Holmes - kommt zum Schluß, es müsse sich um den 27. August 1887 gehandelt haben. Analog wäre dann die Notiz von der Auflösung der Liga datiert vom 29. Oktober 1887, einem Samstag. Ob Dr. Watson beim Abschreiben seiner Aufzeichnungen etwas zu tief ins Glas geschaut hat?

[4] »Sarasate spielt heute nachmittag« – Pablo Martin Melitón Sarasate y Navascues (1844–1908), ein spanischer Geigenvirtuose, war berühmt für seinen ersten Auftritt in der St. James’ Hall im Jahre 1861. Im Oktober 1890 spielte er allerdings nicht in London.

[5] Im Original ist nur von einem erstmals seit vielen Jahren ausfallenden rubber die Rede; es könnte sich statt um Whist auch um Bridge handeln.

[6] Napoléon ± frz. Goldmünze zu 20 Francs; damaliger britischer Gegenwert etwa 16 Shilling.


Eine Frage der Identität


»Mein lieber Freund«, sagte Sherlock Holmes, als wir beiderseits des Feuers in seiner Wohnung in der Baker Street saßen, »das Leben ist viel seltsamer als alles, was der Geist des Menschen erfinden könnte. Wir würden es nie wagen, uns manche Dinge auszudenken, die tatsächlich doch nur simple Gemeinplätze des Daseins darstellen. Wenn wir Hand in Hand aus diesem Fenster fliegen könnten, um über dieser großen Stadt zu schweben, sachte die Dächer zu entfernen und all die merkwürdigen Dinge auszuspähen, die sich ereignen, die seltsamen Zufälligkeiten, das Pläneschmieden, die einander entgegengesetzten Absichten, die wunderbare Kette der Ereignisse, die über Generationen hinweg wirksam wird und zu den ausgefallensten Ergebnissen führt, dann würde das alle Dichtung mit ihren Konventionen und voraussehbaren Schlüssen überaus schal und unersprießlich machen.«

»Und dennoch bin ich davon nicht überzeugt«, antwortete ich. »Die Fälle, die in den Zeitungen ans Tageslicht gelangen, sind in der Regel ziemlich dürftig und reichlich vulgär. In unseren Polizeiberichten findet sich bis auf die äußerste Spitze getriebener Realismus, und trotzdem muß man zugeben, daß das Ergebnis weder faszinierend noch künstlerisch befriedigend ist.«

»Wenn man einen realistischen Effekt hervorrufen will, muß man schon eine gewisse Willkür walten lassen und eine Auslese vornehmen«, bemerkte Holmes. »Das fehlt im Polizeibericht, wo vielleicht auf die Platitüden des Behördenwegs mehr Wert gelegt wird als auf die Einzelheiten, in denen ein Beobachter die wirklich wichtige Essenz der ganzen Angelegenheit erblickt. Verlassen Sie sich darauf: Nichts ist so unnatürlich wie das Gewöhnliche.«

Ich lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich begreife durchaus, wie Sie darauf kommen«, sagte ich. »In Ihrer Stellung als inoffizieller Berater und Helfer für jeden, der absolut ratlos ist, und zwar in drei Kontinenten, bekommen Sie es natürlich mit allem zu tun, was seltsam und bizarr ist. Aber hier« – ich hob die Morgenzeitung vom Fußboden auf – »sollten wir die Sache praktisch erproben. Hier, die erste Schlagzeile, auf die ich stoße. ›Grausamkeit eines Mannes gegenüber seiner Frau.‹ Es folgt eine halbe Druckspalte, aber ohne zu lesen weiß ich, daß mir das alles sehr vertraut ist. Natürlich finden wir da die andere Frau, Alkohol, Püffe, Schläge, Verletzungen, die mitleidige Schwester oder Wirtin. Der plumpeste Schriftsteller könnte nichts Plumperes erfinden.«

»Sie haben wirklich ein ausgesprochen unglückliches Beispiel für Ihre Behauptung gewählt«, sagte Holmes; er nahm die Zeitung und überflog sie. »Das ist der Scheidungsfall Dundas, und wie der Zufall es will, war ich an der Aufhellung einiger kleiner Punkte im Zusammenhang damit befaßt. Der Gatte war ein strenger Nichttrinker, es gab keine andere Frau, und das beklagte Verhalten bestand in seiner Gewohnheit, am Ende einer jeden Mahlzeit sein falsches Gebiß herauszunehmen und es nach seiner Frau zu werfen, was, wie Sie zugeben werden, nicht gerade eine Handlungsweise ist, wie sie einem durchschnittlichen Erzähler in den Sinn käme. Nehmen Sie eine Prise Schnupftabak, Doktor, und geben Sie zu, daß dieses Beispiel ein Punkt für mich ist.«

Er reichte mir seine Schnupftabaksdose aus Altgold, mit einem großen Amethysten in der Mitte des Deckels. Diese Pracht stand in einem so großen Gegensatz zu seinen schlichten Gewohnheiten und seinem einfachen Leben, daß ich einen Kommentar hierzu nicht unterdrücken konnte.

»Ah«, sagte er, »ich hatte vergessen, daß ich Sie einige Wochen lang nicht gesehen habe. Das ist ein kleines Souvenir des Königs von Böhmen als Gegenleistung für meine Hilfe im Fall Irene Adler.«

»Und der Ring?« fragte ich, wobei ich den bemerkenswerten Brillanten musterte, der an seinem Finger glitzerte.

»Der stammt von der holländischen Herrscherfamilie; die Angelegenheit, in der ich ihr zu Diensten war, war allerdings so delikat, daß ich sie nicht einmal Ihnen anvertrauen kann, obwohl Sie so freundlich waren, eines oder zwei meiner kleinen Probleme aufzuzeichnen.«

»Und? Beschäftigt Sie zur Zeit wieder ein Fall?« fragte ich interessiert.

»Vielleicht zehn oder zwölf, aber es ist nichts dabei, was besonders interessant wäre. Verstehen Sie – wichtig, ohne interessant zu sein. Übrigens habe ich festgestellt, daß es meistens die unwichtigen Fälle sind, die Gelegenheiten zu interessanten Beobachtungen und zur schnellen Analyse von Ursachen und Wirkungen bieten, die den Reiz einer Untersuchung ausmacht. Die größeren Verbrechen sind häufig die einfacheren, denn je größer das Verbrechen, desto offensichtlicher ist in der Regel das Motiv. Abgesehen von einer reichlich verwickelten Angelegenheit, die mir aus Marseille zugekommen ist, gibt es in keinem dieser augenblicklichen Fälle interessante Besonderheiten. Es wäre aber möglich, daß ich etwas Besseres in Händen habe, ehe allzu viel Zeit verstrichen ist; wenn ich mich nicht sehr irre, kommt nämlich da einer meiner Klienten.«

Er hatte sich von seinem Stuhl erhoben, stand zwischen den auseinandergezogenen Vorhängen und schaute hinab auf die fade, farblose Londoner Straße. Ich blickte über seine Schulter und sah, daß auf dem gegenüberliegenden Gehsteig eine große Frau stand, die eine schwere Pelzboa um den Nacken und eine lange, gekräuselte, rote Feder in einem breitkrempigen Hut trug, den sie in der koketten Art der Herzogin von Devonshire[1] schräg über dem Ohr sitzen hatte. Unter diesem gewaltigen Helm warf sie nervöse, zögernde Blicke zu unseren Fenstern hinauf, während ihr Körper leicht vor und zurück schwankte und ihre Finger nervös mit den Knöpfen ihrer Handschuhe spielten. Plötzlich, mit einem förmlichen Eintauchen wie dem eines Schwimmers, der vom Ufer abstößt, eilte sie quer über die Straße, und wir hörten das schrille Klingeln der Glocke.

»Mir sind solche Symptome vertraut«, sagte Holmes. Er warf seine Zigarette ins Feuer. »Zögerndes Schwanken auf dem Gehsteig bedeutet immer eine affaire du F°ur. Sie möchte einen Rat haben, ist aber nicht sicher, ob die Sache nicht allzu delikat ist, als daß man sie jemandem mitteilen könnte. Aber selbst hier gibt es noch Unterschiede. Wenn einer Frau von einem Mann schlimmes Unrecht zugefügt worden ist, dann schwankt sie nicht mehr, und das übliche Symptom ist ein zerrissener Klingelzug. Hier können wir aber davon ausgehen, daß es sich um eine Liebesangelegenheit handelt, daß die Maid aber weniger zornig denn verwirrt oder bekümmert ist. Aber da kommt sie persönlich, um uns aus unseren Zweifeln zu erlösen.«

Noch während er sprach, hörten wir ein Klopfen an der Tür, und der Hausbursche trat ein, um Miss Mary Sutherland anzukündigen; die Lady selbst ragte indessen hinter seiner kleinen schwarzen Gestalt auf wie ein Handelsschiff unter vollen Segeln hinter einem kleinen Lotsenboot. Sherlock Holmes hieß sie mit der ihm eigenen zwanglosen Höflichkeit willkommen, und nachdem er die Tür geschlossen und der Dame mit einer knappen Verneigung einen Lehnstuhl angeboten hatte, musterte er sie in der eingehenden und dennoch abstrakten Weise, die für ihn eigentümlich war.

»Finden Sie nicht«, sagte er, »daß bei Ihrer Kurzsichtigkeit das viele Maschineschreiben ein wenig anstrengend ist?«


»Am Anfang war es so«, antwortete sie, »aber inzwischen weiß ich auch ohne hinzusehen, wo die Buchstaben sind.« Dann ging ihr plötzlich die volle Bedeutung seiner Worte auf, sie fuhr heftig zusammen und sah hoch, mit Furcht und Staunen auf ihrem breiten, gutmütigen Gesicht. »Sie müssen schon von mir gehört haben, Mr. Holmes«, rief sie, »wie könnten Sie sonst all das wissen?«

»Beunruhigen Sie sich nicht«, sagte Holmes lachend, »Wissen gehört zu meiner Arbeit. Vielleicht habe ich mich dazu erzogen, das zu sehen, was andere übersehen. Wenn es anders wäre, kämen Sie doch wohl nicht, um mich zu konsultieren?«

»Ich bin zu Ihnen gekommen, Sir, weil ich über Sie von Mrs. Etheredge einiges gehört habe, deren Mann Sie so mühelos gefunden haben, als die Polizei und alle anderen ihn für tot aufgegeben hatten. Oh, Mr. Holmes, wenn Sie für mich doch auch so viel tun könnten. Ich bin zwar nicht reich, aber immerhin habe ich hundert Pfund im Jahr zur Verfügung, neben dem wenigen, das ich mit der Schreibmaschine verdiene, und ich würde alles hergeben, wenn ich erfahren könnte, was aus Mr. Hosmer Angel geworden ist.«

»Warum sind Sie in solcher Eile aufgebrochen, um mich zu konsultieren?« fragte Sherlock Holmes; er hatte seine Fingerspitzen aneinandergelegt und die Augen an die Zimmerdecke geheftet.

Abermals trat ein Ausdruck des Erschreckens in Miss

Mary Sutherlands eher leeres Gesicht. »Ja, ich habe das Haus Knall auf Fall verlassen«, sagte sie, »weil ich darüber verärgert war, daß Mr. Windibank – das heißt, mein Vater – die ganze Sache so leicht nimmt. Er will nicht zur Polizei gehen, und er will nicht zu Ihnen kommen, und weil er nichts unternehmen will, und immer wieder sagt, daß doch nichts Schlimmes geschehen ist, bin ich sehr wütend geworden, habe mich in meine Sachen geworfen und bin sofort zu Ihnen gekommen.«

»Ihr Vater?« sagte Holmes. »Doch sicher Ihr Stiefvater, da er einen anderen Namen hat?«

»Ja, mein Stiefvater. Ich nenne ihn Vater, obwohl es komisch klingt, er ist nämlich nur fünf Jahre und zwei

Monate älter als ich.«

»Und Ihre Mutter lebt noch?«

»Oh, ja, Mutter lebt, es geht ihr gut. Ich war gar nicht glücklich, Mr. Holmes, daß sie so kurz nach Vaters Tod wieder geheiratet hat, und dazu noch einen Mann, der fast fünfzehn Jahre jünger ist als sie. Vater war Klempner in der Tottenham Court Road, und er hat ein ordentliches Geschäft hinterlassen, das Mutter zusammen mit dem Vorarbeiter Mr. Hardy weitergeführt hat, aber als Mr. Windibank kam, hat er dafür gesorgt, daß sie das Geschäft verkauft, er ist nämlich etwas viel Besseres, Reisender in Wein. Für das Geschäft und alle Anrechte haben sie viertausendsiebenhundert bekommen, bei weitem nicht, was Vater hätte bekommen können, wenn er noch lebte.«

Ich hatte erwartet, daß Sherlock Holmes bei diesem weitschweifigen und nebensächlichen Bericht ungeduldig würde, doch hatte er im Gegenteil mit größter und gesammelter Aufmerksamkeit gelauscht.

»Ihr eigenes kleines Einkommen«, fragte er, »stammt das aus dem Geschäft?«

»O nein, Sir, das hat damit nichts zu tun; mein Onkel Ned aus Auckland hat es mir hinterlassen. Es steckt in neuseeländischen Anlagen zu viereinhalb Prozent. Zweitausendfünfhundert Pfund war die Summe, aber ich kann nur über die Zinsen verfügen.«

»Das ist sehr interessant«, sagte Holmes. »Und mit einer so großen Summe wie hundert im Jahr, dazu mit dem, was Sie nebenher verdienen, können Sie sicherlich Reisen machen und überhaupt Ihren Wünschen nachgehen. Ich nehme an, daß eine alleinstehende Dame schon mit einem Einkommen von etwa sechzig Pfund sehr gut zurechtkommen kann.«

»Ich könnte mit viel weniger auskommen, Mr. Holmes, aber, wissen Sie, solange ich zu Hause lebe, möchte ich den anderen nicht zur Last fallen, und deshalb können sie über das Geld verfügen, solange ich bei ihnen wohne. Das gilt natürlich nur vorläufig. Mr. Windibank hebt jedes Vierteljahr meine Zinsen ab und gibt sie an Mutter weiter, und ich komme sehr gut mit dem zurecht, was ich durch Maschineschreiben verdiene. Ich bekomme zwei Pence pro Seite, und ich bringe es oft auf fünfzehn bis zwanzig Seiten pro Tag.«

»Sie haben mir Ihre Lage sehr klar dargelegt«, sagte Holmes. »Das ist mein Freund, Dr. Watson, vor dem Sie genauso frei sprechen können wie vor mir. Erzählen Sie uns doch nun bitte alles über Ihre Beziehung zu Mr. Hosmer Angel.«

Ein Hauch von Röte flog über Miss Sutherlands Gesicht, und nervös zupfte sie am Saum ihres Jacketts. »Ich habe ihn auf dem Ball der Rohrleger kennengelernt«, sagte sie. »Sie haben Vater immer Karten geschickt, als er noch lebte, und danach haben sie noch immer an uns gedacht und die Karten an Mutter geschickt. Mr. Windibank wollte nicht mitkommen. Er will nie, daß wir irgendwohin ausgehen. Er würde sich schrecklich aufregen, wenn ich auch nur an einem Ausflug der Sonntagsschule teilnehmen wollte. Aber dieses Mal war ich entschlossen hinzugehen, und welches Recht hätte er denn auch gehabt mich daran zu hindern? Er sagte, diese Leute wären nicht der richtige Umgang für uns, wo doch alle alten Freunde von Vater da sein würden. Und er sagte, ich hätte nichts Passendes anzuziehen, wo ich doch ein rotes Kleid aus Baumwollsamt habe, das ich nie auch nur aus dem Schrank genommen hatte. Als er schließlich nichts mehr tun konnte, ist er in Geschäften nach Frankreich gereist, aber wir sind zum Ball gegangen, Mutter und ich, mit Mr. Hardy, der unser Vorarbeiter gewesen war, und da habe ich dann Mr. Hosmer Angel getroffen.«

»Ich nehme an«, sagte Holmes, »daß Mr. Windibank nach seiner Rückkehr aus Frankreich sehr böse mit Ihnen war, daß Sie doch zum Ball gegangen sind.«

»Oh, also, er hat es sehr leichtgenommen. Er hat gelacht, ich weiß es noch, und mit den Schultern gezuckt und gesagt, es hätte keinen Zweck, einer Frau irgendwas zu verbieten, weil sie doch ihren Kopf durchsetzt.«

»Aha. Wenn ich Sie recht verstehe, haben Sie dann auf dem Ball der Rohrleger einen Gentleman namens Mr. Hosmer Angel kennengelernt.«

»Ja, Sir. An diesem Abend habe ich ihn kennengelernt, und am nächsten Tag ist er vorbeigekommen, um sich zu erkundigen, ob wir auch alle gut nach Hause gekommen wären, und danach haben wir ihn getroffen – das heißt, Mr. Holmes, ich habe ihn zweimal getroffen, um mit ihm spazierenzugehen, aber dann ist Vater wieder heimgekehrt, und Mr. Hosmer Angel konnte nicht mehr in unser

Haus kommen.«

»Nein?«


»Nun ja, Sie wissen, daß Vater nichts derartiges haben will. Er will keine Besucher haben, wenn es sich vermeiden läßt, und er sagt immer, daß eine Frau im Kreise ihrer eigenen Familie glücklich sein soll. Aber wie ich Mutter immer sage, will eine Frau doch vor allem ihren eigenen Kreis, und meinen hatte ich noch nicht gefunden.«

»Aber was ist mit Mr. Hosmer Angel? Hat er keinen Versuch gemacht, Sie wiederzusehen?«

»Also, Vater wollte eine Woche später wieder nach Frankreich fahren, und Hosmer hat mir geschrieben, daß es sicherer und besser wäre, uns nicht zu treffen, bevor er nicht abgereist ist. In der Zwischenzeit könnten wir uns schreiben, und er hat jeden Tag geschrieben. Ich habe morgens früh die Post ins Haus geholt, also brauchte Vater nichts davon zu erfahren.«

»Waren Sie damals schon mit dem Gentleman verlobt?«

»O ja, Mr. Holmes. Wir haben uns nach unserem ersten gemeinsamen Spaziergang verlobt. Hosmer – Mr. Angel – ist Kassierer in einem Büro in der Leadenhall

Street – und …«

»In welchem Büro?«

»Das ist ja das Schlimmste, Mr. Holmes. Ich weiß es nicht.«

»Wo wohnt er denn?«

»Er schläft in der Firma.«

»Und Sie kennen seine Anschrift nicht?«

»Nein. Ich weiß nur, es ist in der Leadenhall Street.«

»Wohin haben Sie denn Ihre Briefe geschickt?«

»Postlagernd an das Postamt in der Leadenhall Street. Er sagte, wenn ich sie in sein Büro schicke, werden die anderen Angestellten ihn hänseln, weil er Briefe von einer Dame bekommt, und deshalb habe ich vorgeschlagen, daß ich meine Briefe auch, wie er seine, mit der Maschine schreibe, aber davon wollte er nichts wissen, er sagte nämlich, wenn ich sie schreibe, dann kommen sie für ihn unmittelbar von mir, aber wenn sie mit der Maschine geschrieben sind, dann hat er das Gefühl, daß zwischen uns eine Maschine steht. Das müßte Ihnen zeigen, wie viel ihm an mir liegt, Mr. Holmes, und welche Kleinigkeiten er bedenkt.«

»Das ist sehr aufschlußreich«, sagte Holmes. »Es ist schon sehr lange eines meiner Axiome, daß die kleinen Dinge bei weitem die wichtigsten sind. Erinnern Sie sich noch an andere Kleinigkeiten im Zusammenhang mit Mr. Hosmer Angel?«

»Er ist ein sehr scheuer Mensch, Mr. Holmes. Er wollte mit mir immer lieber abends als bei Tageslicht spazieren gehen, er sagte nämlich, daß er es haßt aufzufallen.

Er ist immer sehr zurückhaltend gewesen und hat sich wie ein Gentleman benommen. Sogar seine Stimme ist sanft. Er hat mir erzählt, daß er als Kind Halsbräune und geschwollene Drüsen hatte, und davon ist ein schwacher Kehlkopf zurückgeblieben, und eine stockende, flüsternde Redeweise. Er war immer gut gekleidet, sehr sauber und einfach, aber seine Augen sind genauso schwach wie meine, und er trägt dunkle Gläser gegen die Helligkeit.«

»Aha. Und was ist geschehen, als Ihr Stiefvater, Mr. Windibank, wieder nach Frankreich fuhr?«

»Mr. Hosmer Angel ist wieder zu uns nach Hause gekommen und hat vorgeschlagen, wir sollten heiraten, ehe Vater zurückkommt. Es war ihm sehr ernst damit, und er hat mich meine Hände auf die Bibel legen und schwören lassen, daß ich ihm die Treue halte, ganz gleich, was auch passiert. Mutter sagte, es wäre ganz richtig, mich schwören zu lassen, und es wäre ein Zeichen für seine Leidenschaft. Mutter war von Anfang an ganz für ihn und von ihm sogar noch mehr eingenommen als ich. Als sie dann davon gesprochen haben, daß wir innerhalb einer Woche heiraten sollten, habe ich gefragt, was denn mit Vater würde, aber beide haben mir gesagt, ich sollte mich nicht um Vater kümmern und es ihm erst hinterher erzählen, und Mutter sagte, sie würde schon dafür sorgen, daß er zustimmt. Das war mir gar nicht recht, Mr.

Holmes. Es kam mir seltsam vor, daß ich um seine Erlaubnis bitten sollte, wo er doch nur wenige Jahre älter ist als ich; ich wollte aber auch nichts hinter seinem Rücken tun, deshalb habe ich Vater nach Bordeaux geschrieben, wo die Gesellschaft ihre französische Niederlassung hat, aber ausgerechnet am Morgen der Trauung kam der Brief an mich zurück.«

»Er hat ihn also nicht erreicht?«

»Ja, Sir, mein Vater war nämlich zurück nach England aufgebrochen, kurz bevor der Brief dort unten ankam.«

»Ha! Das war ein unglücklicher Zufall. Ihre Trauung war also für Freitag festgesetzt. Sollte sie in der Kirche stattfinden?«

»Ja, Sir, aber sehr still. Sie sollte in St. Saviour’s nahe King’s Cross stattfinden, und anschließend wollten wir im St.-Pancras-Hotel frühstücken. Hosmer ist in einem Zweisitzer gekommen, um uns abzuholen, aber weil wir zu zweit waren, hat er uns in diesen Wagen gesetzt und selbst eine vierrädrige Kutsche genommen, die gerade die einzige andere Droschke auf der Straße war. Wir sind als erste an der Kirche angekommen, und als dann die Droschke vorfuhr, haben wir darauf gewartet, daß er endlich aussteigt, aber nichts rührte sich, und als der Kutscher schließlich abgestiegen ist und nachgeschaut hat, da war niemand im Wagen! Der Kutscher sagte, er hätte keine Ahnung, wo er geblieben sein könnte, er hätte ihn doch mit eigenen Augen einsteigen sehen. Das war am letzten Freitag, Mr. Holmes, und seitdem habe ich nichts gesehen oder gehört, was mir helfen könnte, die Frage nach seinem Verbleib zu beantworten.«


»Mir scheint, Sie sind schändlich behandelt worden«, sagte Holmes.

»O nein, Sir! Er war zu gut und zu lieb, um mich so zu verlassen. Er hat mir doch noch am selben Morgen immer wieder gesagt, ich sollte ihm treu bleiben, was auch immer geschieht; und sogar wenn etwas Unvorhergesehenes eintritt, was uns trennt, soll ich doch immer daran denken, daß ich ihm versprochen bin und daß er dieses Pfand früher oder später einlösen würde. Es kam mir seltsam vor, daß er am Hochzeitsmorgen so redet, aber das, was seitdem geschehen ist, gibt seinen Worten ja eine Bedeutung.«

»Zweifellos. Nach Ihrer Meinung ist ihm also eine unvorhergesehene Katastrophe zugestoßen?«

»Ja, Sir. Ich glaube, daß er irgendeine Gefahr erwartet hat, sonst hätte er nicht so gesprochen. Und ich glaube, das, was er erwartet hatte, ist dann eingetroffen.«

»Sie haben aber keine Vorstellung, was das gewesen sein könnte?«

»Nein.«

»Noch eine Frage. Wie hat Ihre Mutter die Sache hingenommen?«

»Sie war sehr verärgert und hat gesagt, ich sollte nie wieder davon sprechen.«

»Und Ihr Vater? Haben Sie es ihm erzählt?«

»Ja, und wie ich scheint er zu glauben, daß etwas geschehen ist und daß ich bald wieder von Hosmer hören werde. Er sagt, welches Interesse könnte jemand daran haben, mich bis zur Kirchentür zu bringen und mich dann zu verlassen? Wenn er nun Geld von mir geliehen oder mich geheiratet und mein Geld auf sich überschrieben hätte, dann könnte das ein Grund sein; aber Hosmer war in Geldsachen sein eigener Herr, und er wollte nie auch nur einen Shilling von meinem. Aber was kann denn nur geschehen sein? Und warum hat er mir noch nicht geschrieben? Oh, es macht mich fast verrückt, wenn ich daran denke! Und ich mache nachts kein Auge mehr zu.« Sie zog ein kleines Tuch aus ihrem Muff und begann heftig hineinzuschluchzen.

»Ich werde mich für Sie dieser Sache annehmen«, sagte Holmes; er stand auf. »Und ich habe keinen Zweifel, daß wir zu einem eindeutigen Ergebnis kommen. Überlassen Sie die ganze Angelegenheit nun ruhig mir, denken Sie nicht mehr unausgesetzt daran. Und versuchen Sie vor allem, Mr. Hosmer Angel aus Ihrem Gedächtnis verschwinden zu lassen, so wie er aus Ihrem Leben verschwunden ist.«

»Dann glauben Sie nicht, daß ich ihn wiedersehen werde?«

»Ich fürchte, nein.«

»Aber was ist denn nur mit ihm geschehen?«

»Überlassen Sie mir diese Frage. Ich hätte gern eine genaue Beschreibung und all die Briefe von ihm, von

denen Sie sich trennen können.«

»Ich habe am letzten Samstag im Chronicle nach ihm annonciert«, sagte sie. »Hier ist der Ausschnitt, und hier sind vier Briefe von ihm.«

»Ich danke Ihnen. Und Ihre Anschrift?«

»31 Lyon Place, Camberwell.«

»Mr. Angels Anschrift haben Sie nie besessen, wenn ich Sie recht verstehe. Wo befindet sich die Firma Ihres Vaters?«

»Er reist für Westhouse & Marbank, den großen Weinimport in der Fenchurch Street.«

»Danke sehr. Ihre Auslassungen waren sehr klar. Lassen Sie mir die Papiere hier, und denken Sie an den Ratschlag, den ich Ihnen gegeben habe. Betrachten Sie die Vorfälle als beendet und abgeschlossen, und lassen Sie nicht zu, daß Ihr Leben davon beeinträchtigt wird.«

»Sie sind sehr freundlich, Mr. Holmes, aber das kann ich nicht. Ich werde Hosmer treu bleiben. Er wird mich bereit finden, wenn er zurückkommt.«

Trotz ihres grotesken Huts und des leeren Gesichts hatte der schlichte Glaube unserer Besucherin etwas Edles, das unseren Respekt erheischte. Sie legte ihr kleines Papierbündel auf den Tisch und verließ uns mit dem Versprechen wiederzukommen, sobald sie dazu aufgefordert würde.

Sherlock Holmes saß einige Minuten still da; seine Fingerspitzen hatte er noch immer aneinandergelegt, die Beine von sich gestreckt, und er starrte an die Decke. Dann nahm er die alte, ölige Tonpfeife vom Bord, die für ihn eine Art Ratgeber war, und nachdem er sie angezündet hatte, lehnte er sich in seinem Sessel zurück; dichte blaue Rauchgirlanden kräuselten sich aufwärts, und in seinem Gesicht lag ein Ausdruck unendlicher Ermattung.

»Ein ganz interessantes Studienobjekt, dieses Mädchen«, bemerkte er. »Ich fand sie viel interessanter als ihr kleines Problem, das, nebenbei bemerkt, ziemlich abgedroschen und einfach ist. Wenn Sie meinen Index konsultieren, werden Sie gleichartige Fälle in Andover anno ‘77 und etwas Ähnliches in Den Haag im letzten Jahr finden. So alt aber auch die Idee sein mag, es gab doch eine oder zwei Einzelheiten, die mir neu waren. Aber das Mädchen selbst war besonders ergiebig.«

»Sie scheinen in ihr eine ganze Menge gelesen zu haben, was für mich völlig unsichtbar war«, bemerkte ich.

»Nicht unsichtbar, sondern nicht beobachtet, Watson. Sie wußten nicht, worauf Sie achten mußten, und deshalb haben Sie alles Wichtige übersehen. Es wird mir wohl nie gelingen, Ihnen die Bedeutung der Ärmel klarzumachen oder die Wichtigkeit von Daumennägeln, oder die großen Dinge, die an einem Schnürriemen hängen können. Also: Was haben Sie dem Äußeren dieser Frau entnehmen können? Beschreiben Sie.«


»Nun, sie hatte einen schieferfarbenen, breitkrempigen Strohhut mit einer ziegelroten Feder. Ihr Jackett war schwarz, mit schwarzen Perlen besetzt und einem Saum mit kleinen schwarzen Jade-Ornamenten. Ihr Kleid war braun, eher etwas dunkler als Kaffee, mit ein wenig rotem Baumwollsamt am Hals und an den Ärmeln. Ihre Handschuhe waren gräulich, und der rechte Zeigefinger schien durch. Ihre Schuhe habe ich nicht beobachtet. Sie hatte kleine, runde, herabhängende Goldohrringe und machte insgesamt einen Eindruck von Wohlstand, in einer gewöhnlichen, bequemen, fast lässigen Weise.«

Sherlock Holmes klatschte leise in die Hände und kicherte.

»Mein Ehrenwort, Watson, Sie spielen wunderbar mit. Das haben Sie wirklich sehr schön gemacht. Sie haben zwar alles übersehen, was wichtig ist, aber Sie haben die Methode getroffen, und Sie haben ein gutes Auge für Farben. Vertrauen Sie niemals allgemeinen Eindrücken, mein Lieber, sondern konzentrieren Sie sich auf Einzelheiten. Mein erster Blick gilt immer den Ärmeln einer Frau. Bei einem Mann kann es besser sein, zuerst das Knie der Hose in Augenschein zu nehmen. Wie Sie sagten, hatte diese Frau Baumwollsamt an ihren Ärmeln, und dieses Material ist sehr nützlich, weil es Spuren bewahrt. Die doppelte Linie kurz über dem Handgelenk, wo jemand, der Maschine schreibt, sich auf den Tisch aufstützt, war wunderschön sichtbar. Eine mit der Hand zu bedienende Nähmaschine hinterläßt einen ähnlichen Abdruck, aber nur am linken Arm und auf der dem Daumen abgewandten Seite, statt wie in diesem Fall an der breitesten Stelle. Dann habe ich mir ihr Gesicht angesehen, und als ich auf beiden Seiten der Nase die Eindrücke eines pince-nez bemerkte, habe ich mich über Kurzsichtigkeit und Maschineschreiben geäußert, was sie zu überraschen schien.«

»Jedenfalls hat es mich überrascht.«

»Aber das war doch ganz offensichtlich. Weiter hat es mich sehr überrascht und interessiert, daß ich, als ich an ihr hinabsah, feststellte, daß die Stiefel, die sie trug, nicht gerade völlig verschieden waren, aber sie gehörten doch nicht zusammen; der eine war vorn ein wenig verziert, und der andere war ganz schlicht. Der eine war nur mit den beiden unteren von fünf Knöpfen verschlossen, der andere mit dem ersten, dritten und fünften. Wenn Sie nun also eine junge Dame sehen, die mit halb zugeknöpften und nicht zueinander passenden Stiefeln aus dem Haus gegangen ist, obwohl sie sich sonst ordentlich kleidet, dann ist es kein Kunststück, abzuleiten, daß sie in Eile war.«

»Und was noch?« fragte ich, da mich die scharfe Logik meines Freundes wie immer zutiefst interessierte.

»En passant habe ich festgestellt, daß sie einen Brief geschrieben hat, bevor sie das Haus verließ, aber nachdem sie sich angekleidet hatte. Sie haben ja bemerkt, daß ihr rechter Handschuh am Zeigefinger zerrissen war, aber offenbar haben Sie nicht gesehen, daß Handschuh und Finger mit violetter Tinte befleckt waren. Sie hat sehr hastig geschrieben und ihre Feder zu tief eingetaucht. Es muß heute morgen gewesen sein, andernfalls wäre der Fleck nicht mehr so deutlich sichtbar auf ihrem Finger. All das ist amüsant, wenn auch ziemlich elementar, aber kommen wir wieder zur Sache, Watson. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir die annoncierte Beschreibung von Mr. Hosmer Angel vorzulesen?«

Ich hielt den kleinen gedruckten Ausschnitt ans Licht.

Der Text lautete: »›Seit dem Morgen des 14. wird ein Gentleman namens Hosmer Angel vermißt. Er ist etwa 5 Fuß 7 Zoll groß; kräftig gebaut, bläßliche Hautfarbe, schwarzes Haar mit beginnender Kahlheit in der Kopfmitte, buschiger schwarzer Backen- und Oberlippenbart; getönte Brille, kleiner Sprachfehler. Trug zuletzt schwarzen, seidebesetzten Gehrock, schwarze Weste, kurze goldene Uhrkette, graue Hosen aus Harris-Tweed und braune Gamaschen über Schuhen mit elastischen Seiten. War in einem Büro in der Leadenhall Street angestellt. Für verläßliche Informationen‹ usw. usw.«

»Das genügt«, sagte Holmes. »Was nun die Briefe angeht«, fuhr er fort, wobei er sie überflog, »so sind sie ziemlich gewöhnlich. Keinerlei brauchbare Hinweise auf Mr. Angel, abgesehen davon, daß er einmal Balzac zitiert. Eines ist allerdings an ihnen bemerkenswert und wird Ihnen sicher auffallen.«

»Sie sind mit der Maschine geschrieben«, bemerkte ich.

»Nicht nur das, sondern auch die Unterschrift ist mit Maschine geschrieben. Schauen Sie sich das saubere kleine ›Hosmer Angel‹ hier unten an. Wie Sie sehen, sind die Briefe datiert, aber nur mit Leadenhall Street überschrieben, das ist reichlich vage. Die Sache mit der Unterschrift ist sehr wichtig – wir können sie sogar als entscheidend ansehen.«

»Entscheidend wofür?«

»Mein lieber Freund, kann es denn sein, daß Sie wirklich nicht sehen, welche große Bedeutung das für den Fall hat?«

»Das kann ich wirklich nicht behaupten, außer Sie meinen, er hat Wert darauf gelegt, seine Unterschrift leugnen zu können, wenn gegen ihn Anklage wegen eines nicht eingehaltenen Eheversprechens erhoben wird.«

»Nein, das ist nicht der Punkt. Ich werde aber jedenfalls zwei Briefe schreiben, die die Sache klären sollten.

Einen an eine Firma in der City, den anderen an Mr. Windibank, den Stiefvater der jungen Dame, mit der Frage, ob er bereit wäre, uns hier morgen nachmittag um 6 Uhr zu treffen. Und jetzt, Doktor, können wir nichts tun, bis die Antworten auf diese Briefe eintreffen, wir können also unser kleines Problem in der Zwischenzeit beiseitelegen.«

Ich hatte so viele gute Gründe, an das feinsinnige Denkvermögen meines Freundes zu glauben, daß ich sicher war, er müsse ausreichenden Anlaß zu der selbstsicheren und gelassenen Art haben, in der er das einzigartige Rätsel handhabte, das auszuloten man ihn gebeten hatte. Nur einmal hatte ich ihn versagen sehen, im Fall mit der Photographie von Irene Adler und dem König von Böhmen; wenn ich aber an die unheimliche Geschichte des Zeichens der Vier und die außerordentlichen Umstände im Zusammenhang mit der Studie in Scharlach zurückdachte, schien es mir, es müßte eine wahrhaft seltsame Verwicklung sein, die er nicht aufzulösen vermöchte.

So verließ ich ihn, der noch immer seine schwarze Tonpfeife paffte, in der Überzeugung, bei meiner Rückkehr am nächsten Abend festzustellen, daß er alle Hinweise in Händen hielt, die uns zur Identität von Miss Mary Sutherlands verschwundenem Bräutigam fuhren würden.

Ein sehr ernster Fall forderte zu dieser Zeit meine berufliche Aufmerksamkeit, und den ganzen nächsten Tag verbrachte ich neben dem Bett des Leidenden. Erst kurz vor sechs Uhr fand ich die Zeit, in eine Kutsche zu springen und zur Baker Street zu fahren; fast fürchtete ich, zu spät zu kommen, um dem dénouement des kleinen Rätsels beizuwohnen. Ich traf Sherlock Holmes jedoch allein an; in die Tiefen des Lehnsessels gekuschelt schien seine lange, dünne Gestalt entschlummert zu sein. Eine gewaltige Menge von Flaschen und Reagenzgläsern sowie der stechende, saubere Geruch von Salzsäure sagten mir, daß er den Tag mit seinen geliebten chemischen Arbeiten zugebracht hatte.

»Na, haben Sie es gelöst?« fragte ich beim Eintreten.

»Ja. Es war Baryt-Bisulphat.« »Nein, nein, das Rätsel!« rief ich.

»Ach, das! Ich dachte an das Salz, mit dem ich gearbeitet habe. Im übrigen war der Fall nie rätselhaft, wenn er auch, wie ich gestern sagte, einige interessante Einzelheiten aufweist. Der einzige Nachteil dabei ist, daß es, fürchte ich, kein Gesetz gibt, mit dem man dem Schuft zu

Leibe rücken kann.«

»Wer ist es denn, und was hat er beabsichtigt, als er Miss Sutherland im Stich gelassen hat?«


Ich hatte die Frage kaum ausgesprochen und Holmes hatte noch nicht den Mund geöffnet, um zu antworten, als wir schwere Schritte im Flur und ein Klopfen an der Tür hörten.

»Das ist der Stiefvater des Mädchens, Mr. James Windibank«, sagte Holmes. »Er hat mir geschrieben, daß er gegen sechs Uhr hier sein würde. Treten Sie ein!«

Der Mann, der den Raum betrat, war stämmig und mittelgroß, in den Dreißigern, glattrasiert und blaßhäutig, mit einem sanften, einschmeichelnden Gesichtsausdruck und zwei überaus scharfen und durchdringenden, grauen Augen. Er warf jedem von uns einen fragenden Blick zu, legte seinen glänzenden Zylinder auf das Bord und ließ sich mit einer angedeuteten Verbeugung in den nächsten Sessel fallen.

»Guten Abend, Mr. James Windibank«, sagte Holmes. »Ich glaube, dieser mit der Maschine geschriebene Brief, in dem Sie sich mit mir für sechs Uhr verabredet haben, stammt von Ihnen.«

»Ja, Sir. Ich fürchte, ich komme ein wenig zu spät, aber ich bin nicht ganz mein eigener Herr, wie Sie wohl wissen. Ich bedaure es, daß Miss Sutherland Sie mit dieser Angelegenheit behelligt hat; ich glaube nämlich, es ist viel besser, wenn man solche Art Wäsche nicht in der Öffentlichkeit wäscht. Sie ist gegen meinen ausdrücklichen Willen gekommen, aber sie ist ein leicht erregbares, impulsives Mädchen, wie Ihnen aufgefallen sein mag, und es ist nicht einfach, sie zurückzuhalten, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat. Natürlich habe ich nichts Besonderes gegen Sie, da Sie ja nichts mit der offiziellen Polizei zu tun haben, aber es ist nicht sehr erfreulich, wenn über ein derartiges Mißgeschick einer Familie überall gemunkelt wird. Davon abgesehen ist es nutzlose Geldverschwendung – wie könnten Sie denn wohl je diesen Hosmer Angel ausfindig machen?«

»Im Gegenteil«, sagte Holmes ruhig; »ich habe gute Gründe, anzunehmen, daß es mir gelingen wird, Mr. Hosmer Angel zu entdecken.«

Mr. Windibank schrak heftig zusammen und ließ seine Handschuhe fallen. »Ich freue mich sehr, das zu hören«, sagte er.

»Es ist ein seltsamer Umstand«, meinte Holmes, »daß eine Schreibmaschine genausoviel Individualität besitzt wie die Handschrift eines Mädchens. Wenn sie nicht mehr ganz neu sind, schreiben keine zwei Maschinen genau gleich. Manche Typen sind mehr abgenutzt als andere, manche nutzen sich nur an einer Seite ab. An diesem Brief von Ihnen, Mr. Windibank, werden Sie feststellen, daß über jedem ›e‹ ein kleiner Fleck ist und ein kleiner Defekt im Schwänzchen des ›r‹. Es gibt noch vierzehn weitere Charakteristika, aber dies sind die wichtigsten.«

»In der Firma erledigen wir unsere gesamte Korrespondenz mit dieser Maschine, und zweifellos ist sie ein wenig abgenutzt«, erwiderte unser Besucher; er sah Holmes mit seinen hellen kleinen Augen aufmerksam an.

»Ich will Ihnen jetzt etwas zeigen, was wirklich sehr interessant ist, Mr. Windibank«, fuhr Holmes fort. »Ich beabsichtige, eines Tages eine weitere kleine Monographie über Schreibmaschinen und ihre Beziehung zu Verbrechen zu verfassen. Es ist dies ein Thema, dem ich eine gewisse Aufmerksamkeit gewidmet habe. Hier habe ich vier Briefe, die angeblich von dem vermißten Mann stammen. Sie alle sind mit der Maschine geschrieben. In allen Fällen ist nicht nur das ›e‹ verwaschen und das ›r‹ defekt, sondern Sie werden auch feststellen, wenn Sie sich meines Vergrößerungsglases bedienen wollen, daß die weiteren vierzehn Charakteristika, von denen ich sprach, sich dort ebenfalls finden.«

Mr. Windibank sprang aus seinem Sessel auf und ergriff seinen Hut. »Ich kann meine Zeit nicht mit dieser Art phantastischen Geschwätzes vergeuden, Mr. Holmes«, sagte er. »Wenn Sie den Mann fangen können, dann fangen Sie ihn, und lassen Sie es mich wissen,

wenn Sie es getan haben.«

»Aber gewiß«, sagte Holmes; er trat vor und drehte den Schlüssel in der Tür um. »Hiermit lasse ich Sie wissen, daß ich ihn gefangen habe!«

»Was! Wo?« rief Mr. Windibank; er wurde bleich bis in die Lippen und starrte um sich wie eine Ratte in einer Falle.


»Oh, es hat keinen Sinn – wirklich nicht«, sagte Holmes sanft. »Sie kommen da unmöglich wieder hinaus, Mr. Windibank. Das war alles viel zu durchsichtig, und Sie haben mir ein schlechtes Kompliment gemacht, als Sie sagten, es wäre mir unmöglich, ein so einfaches Problem zu lösen. So ist es recht! Setzen Sie sich, und wir wollen alles durchsprechen.«

Unser Besucher brach mit verzerrtem Gesicht und glitzernder Nässe auf der Stirn in einem Sessel zusammen. »Es … es ist nicht strafbar«, stammelte er.

»Ich befürchte sehr stark, daß das stimmt. Aber unter uns, Windibank, das war der grausamste, selbstsüchtigste und herzloseste Trick, der mir je als schäbiger Bagatellfall untergekommen ist. Ich will jetzt kurz den Verlauf der Ereignisse durchgehen, und Sie widersprechen mir, wenn ich mich irre.«

Der Mann hockte zusammengesunken in seinem Sessel, das Kinn auf der Brust, als wäre er völlig niedergeschmettert. Holmes legte seine Füße auf eine Ecke des Kaminsimses, steckte die Hände in die Taschen, lehnte sich zurück und begann zu sprechen, eher zu sich selbst, wie es schien, denn zu uns.

»Der Mann hat eine sehr viel ältere Frau wegen ihres Geldes geheiratet«, sagte er, »und er konnte über das Geld der Tochter verfügen, solange sie bei ihnen lebte.

Für Leute in ihrer Lage war es eine beträchtliche Summe, und der Verlust hätte schon einiges ausgemacht. Also lohnte sich ein Versuch, das Geld zu bewahren. Von ihrer Veranlagung her war die Tochter gutmütig und freundlich, in ihrem Betragen aber auch liebevoll und warmherzig, daher war es offensichtlich, daß sie mit ihren ansehnlichen persönlichen Vorzügen und ihrem eigenen kleinen Einkommen nicht sehr lange allein bleiben würde. Nun liefe ihre Heirat natürlich auf einen Verlust von hundert Pfund pro Jahr hinaus; was also tut der Stiefvater, um das zu verhindern? Er wählt den naheliegenden Weg, sie häuslich zu halten, und verbietet ihr, die Gesellschaft von Leuten ihres Alters zu suchen. Er mußte aber bald feststellen, daß dies keine dauerhafte Lösung war. Sie wurde widerspenstig, bestand auf ihren Rechten und kündigte schließlich ihre entschiedene Absicht an, auf einen bestimmten Ball zu gehen. Was macht ihr schlauer Stiefvater da? Er entwickelt einen Plan, der weitaus mehr für seinen Kopf als für sein Herz spricht. Mit dem Wissen und der Hilfe seiner Frau verkleidet er sich, verdeckt seine scharfen Augen mit einer getönten Brille, macht das Gesicht mit einem Schnauzbart und einem Paar buschiger Backenbärte unkenntlich, läßt seine helle Stimme zu einem einschmeichelnden Flüstern absinken; daß das Mädchen kurzsichtig ist, gibt ihm doppelte Sicherheit, und so tritt er als Mr. Hosmer Angel auf und scheidet andere mögliche Liebhaber dadurch aus, daß er selbst dem Mädchen den Hof macht.«

»Zuerst war es nur ein Scherz«, ächzte unser Besucher. »Wir haben nie geglaubt, daß sie sich so weit hinreißen lassen würde.«

»Das mag schon sein. Wie auch immer, jedenfalls hat sich die junge Dame ganz entschieden hinreißen lassen, und weil sie davon überzeugt war, daß sich ihr Stiefvater in Frankreich aufhielt, kam ihr der Verdacht, es könnte sich um üble Machenschaften handeln, nie auch nur einen Moment in den Sinn. Sie fühlte sich durch die Aufmerksamkeiten des Gentlemans geschmeichelt, und diese Wirkung wurde dadurch noch verstärkt, daß ihre Mutter lauthals Zustimmung äußerte. Dann hat Mr. Angel begonnen, sie zu Hause zu besuchen, denn offenbar sollte die Sache so weit getrieben werden wie möglich, um eine dauerhafte Wirkung zu erzielen. Es kam zu Verabredungen und einer Verlobung, die endgültig dafür sorgen sollte, daß das Mädchen seine Neigungen nicht einem anderen zuwandte. Aber die Täuschung konnte nicht ewig aufrechterhalten bleiben. Diese angeblichen Reisen nach Frankreich waren ziemlich lästig. Es lag auf der Hand, daß man die Sache auf eine so dramatische Weise zu einem Ende bringen mußte, daß sie einen dauerhaften Eindruck im Gemüt der jungen Dame zurücklassen und sie für lange Zeit davon abhalten würde, nach einem anderen Freier Ausschau zu halten. Daher die geforderten Treueschwüre auf eine Bibel, und daher auch die Andeutungen, daß sich am Hochzeitsmorgen selbst irgend etwas würde ereignen können. James Windibank wollte, daß sich Miss Sutherland so eng an Hosmer Angel bindet und so sehr im Ungewissen über sein Geschick ist, daß sie wenigstens die nächsten zehn Jahre keinen anderen Mann erhört. Bis zur Kirchentür hat er sie gebracht, und weil er nicht weitergehen konnte, ist er in einer für ihn sehr bequemen Weise mit Hilfe eines alten Tricks verschwunden, indem er auf der einen Seite einer Droschke einsteigt und auf der anderen Seite sofort wieder aussteigt. Ich glaube, so haben sich die Dinge abgespielt, Mr. Windibank!«

Unser Besucher hatte sich wieder ein wenig gefaßt, während Holmes sprach, und nun erhob er sich aus seinem Sessel mit eisigem Hohn in seinem bleichen Gesicht.

»Vielleicht ist es so, vielleicht ist es nicht so, Mr. Holmes«, sagte er, »aber wenn Sie schon so scharfsinnig sind, dann sollten Sie auch scharfsinnig genug sein, um zu wissen, daß Sie derjenige sind, der im Moment das

Gesetz bricht, nicht ich. Ich habe von Anfang an nichts getan, dessentwegen man gegen mich Anklage erheben könnte, aber solange Sie diese Tür da verschlossen halten, setzen Sie sich selbst einem Verfahren wegen tätlicher Drohung und ungesetzlicher Nötigung aus.«

»Wie Sie sagen, kann das Gesetz Sie nicht belangen«, sagte Holmes; er schloß die Tür auf und öffnete sie. »Aber es hat nie einen Mann gegeben, der eine Strafe mehr verdient hätte als Sie. Wenn die junge Dame einen Bruder oder einen Freund hat, dann sollte er Ihnen die Peitsche über den Rücken ziehen. Beim Zeus!« fuhr er fort, erregt angesichts des grimmigen Hohns auf dem Gesicht des Mannes, »es gehört nicht zu meinen Pflichten gegenüber meiner Klientin, aber da ist eine Jagdpeitsche in Reichweite, und ich schätze, ich werde mir das Vergnügen …« Er machte zwei schnelle Schritte hin zur Peitsche, aber bevor er sie ergreifen konnte, ächzte die Treppe unter schnellen Tritten, die schwere Haustür fiel krachend ins Schloß, und vom Fenster aus konnten wir Mr. James Windibank sehen, wie er, so schnell es ging, die Straße hinablief.

»So ein kaltblütiger Schurke!« sagte Holmes lachend, als er sich wieder in seinen Sessel fallen ließ. »Dieser Bursche wird von Verbrechen zu Verbrechen aufsteigen, bis er etwas ganz Übles tut und am Galgen endet. In mancher

Hinsicht war dieser Fall keineswegs uninteressant.«


»Ich kann auch jetzt noch nicht all Ihre Denkschritte nachvollziehen«, bemerkte ich.

»Nun ja, es war doch von Anfang an klar, daß dieser Mr. Hosmer Angel sehr schwerwiegende Gründe für sein seltsames Benehmen haben mußte, und genauso klar war, daß der einzige Mann, der wirklich Nutzen aus dem Vorfall zog, der Stiefvater war, soweit wir sehen konnten. Dann die Tatsache, daß die beiden Männer nie zusammengekommen sind, sondern der eine immer nur erschien, wenn der andere abwesend war; das war sehr aufschlußreich. Aufschlußreich waren auch die getönten Gläser und die merkwürdige Stimme, die genau wie der buschige Backenbart auf eine Verkleidung hinwies. Mein Verdacht wurde dadurch bekräftigt, daß er seine Unterschrift mit der Maschine schrieb, woraus sich schließen ließ, daß ihr seine Handschrift so vertraut war, daß sie sie sofort wiedererkennen würde. Wie Sie sehen, wiesen alle Tatsachen für sich genommen, zusammen mit vielen kleineren, in dieselbe Richtung.«

»Und wie haben Sie das alles überprüft?«

»Nachdem ich den Mann einmal ausfindig gemacht hatte, war es einfach, die Verdachtspunkte zu bestätigen. Ich wußte, für welche Firma dieser Mann arbeitet. Ich habe die gedruckte Beschreibung genommen und daraus alles gestrichen, was das Ergebnis einer Verkleidung sein könnte – Backenbart, Brille, Stimme –, und dann habe ich die Beschreibung an die Firma geschickt, mit der Bitte, mir mitzuteilen, ob diese Beschreibung auf einen ihrer Vertreter zutrifft. Die Eigentümlichkeiten der Schreibmaschine hatte ich bereits bemerkt, und ich habe dem Mann an seine Geschäftsadresse geschrieben und ihn gebeten, herzukommen. Wie erwartet, war seine Antwort mit der Maschine geschrieben und wies die gleichen nebensächlichen, aber charakteristischen Mängel auf. Mit der gleichen Post erhielt ich einen Brief von Westhouse & Marbank auf der Fenchurch Street, des Inhalts, daß die Beschreibung in allen Einzelheiten auf ihren Angestellten

James Windibank zutrifft. Voilà tout!«

»Und Miss Sutherland?«

»Sie wird mir nicht glauben, wenn ich es ihr erzähle. Sie erinnern sich vielleicht an das alte persische Sprichwort ›Gefahr droht dem, der das Tigerjunge stiehlt, und Gefahr auch dem, der einer Frau ein Trugbild nimmt‹. Bei Hafis findet sich ebenso viel Vernunft wie bei Horaz, und genauso viel Weltklugheit.«


 
[1] »in der koketten Art der Herzogin von Devonshire« – Watson spielt hier auf Gainsboroughs Portrait der Herzogin von Devonshire, Georgiana Cavendish (1757–1806), an, eine berühmte Schönheit.


Das Rätsel von Boscombe Valley



Eines Morgens saßen meine Frau und ich beim Frühstück, als das Hausmädchen ein Telegramm hereinbrachte. Es kam von Sherlock Holmes und lautete so:

Haben Sie ein paar Tage übrig? Man hat eben aus Westengland nach mir gedrahtet, in Zusammenhang mit der Boscombe-Valley-Tragödie. Hätte Sie gern dabei. Luft und Landschaft wunderschön. Ab Paddington 11:15.

»Was meinst du dazu, Liebster?« fragte meine Frau. Sie sah mich über den Tisch hinweg an. »Wirst du fahren?«

»Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll. Ich habe im Moment eine ziemlich lange Liste.«

»Oh, deine Arbeit kann doch Anstruther erledigen. Du siehst in letzter Zeit ein wenig bleich drein. Ich glaube, die Luftveränderung würde dir guttun, und du bist doch immer so sehr an Mr. Sherlock Holmes’ Fällen interessiert.«

»Wenn es anders wäre, wäre ich undankbar, vor allem, wenn ich sehe, was ich dank einem Fall gewonnen habe[1]«, antwortete ich. »Wenn ich aber fahren will, dann muß ich sofort packen, ich habe nur noch eine halbe

Stunde.«

Meine Erfahrungen mit dem Lagerleben in Afghanistan hatten mich zumindest zu einem schnellen und zum Aufbruch bereiten Reisenden gemacht. Meine Bedürfnisse waren einfach und gering an der Zahl, und in weniger als der genannten Zeit befand ich mich mit meinem Koffer in einer Droschke, die zur Paddington Station ratterte. Sherlock Holmes wanderte auf dem Bahnsteig auf und ab; seine große, hagere Gestalt wurde von seinem langen grauen Reisemantel und der enganliegenden Tuchkappe noch hagerer und größer gemacht.

»Es ist wirklich sehr freundlich, daß Sie mitkommen, Watson«, sagte er. »Es läßt mich ganz anders an die Sache herangehen, wenn ich jemanden bei mir habe, auf den ich mich ganz verlassen kann. Was man am Ort an Hilfe bekommen kann, ist immer entweder wertlos oder voreingenommen. Wenn Sie die beiden Eckplätze freihalten, hole ich die Fahrkarten.«

Wir hatten das Abteil für uns allein und brauchten es nur mit einem ungeheuren Haufen von Zeitungen zu teilen, den Holmes mitgebracht hatte. Er las und blätterte darin, zwischendurch machte er sich Notizen und dachte nach, bis wir Reading hinter uns gelassen hatten. Dann rollte er sie plötzlich alle zu einem riesigen Ball zusammen und warf sie ins Gepäcknetz.

»Wissen Sie etwas über den Fall?« fragte er.

»Nichts. Ich habe seit Tagen keine Zeitung mehr gesehen.«

»Die Londoner Presse hat nicht sehr ausführlich darüber berichtet. Ich habe eben alle Zeitungen aus jüngster Zeit durchgesehen, um mich mit den Einzelheiten vertraut zu machen. Soweit ich bisher sehen kann, scheint das einer dieser einfachen Fälle zu sein, die so besonders schwierig sind.«

»Das klingt ein wenig paradox.«

»Es ist aber zutiefst wahr. Einzigartigkeit birgt fast immer einen Schlüssel. Je gewöhnlicher und unauffälliger ein Verbrechen ist, desto schwieriger ist es zu durchschauen. In diesem Fall hat man aber wohl sehr ernste

Verdachtsmomente gegen den Sohn des Ermordeten.«

»Es handelt sich also um einen Mord?«

»Nun ja, jedenfalls hält man es dafür. Ich werde nichts für gegeben halten, so lange ich nicht die Möglichkeit hatte, mich persönlich damit zu befassen. Ich will Ihnen in kurzen Worten erklären, wie die Dinge liegen, soweit ich im Stande war, es zu begreifen.


Boscombe Valley ist ein Landbezirk in der Nähe von Ross, in Herefordshire. Der größte Grundbesitzer in dieser Gegend ist ein Mr. John Turner, der sein Geld in Australien gemacht hat und vor einigen Jahren in seine alte Heimat zurückgekehrt ist. Hatherley, eine der Farmen in seinem Besitz, wurde an Mr. Charles McCarthy verpachtet, auch er ein ehemaliger Australier. Die Männer hatten einander in den Kolonien kennengelernt, es ist also ganz natürlich, daß sie sich so nahe wie möglich beieinander niedergelassen haben. Offenbar war Turner von beiden der reichere, also wurde McCarthy sein Pächter, aber es scheint, als hätten sie miteinander auf gleicher Ebene verkehrt, denn sie waren oft zusammen. McCarthy hat einen achtzehnjährigen Sohn, Turner eine Tochter gleichen Alters, aber beider Frauen sind tot. Sie scheinen den Umgang mit den englischen Familien der Nachbarschaft gemieden und zurückgezogen gelebt zu haben, obwohl beide McCarthys viel für Sport übrig haben und oft bei Pferderennen in der Umgebung gesehen werden. McCarthy hat zwei Dienstboten – einen Mann und ein Mädchen. Turner hat einen großen Haushalt, mindestens ein halbes Dutzend. So viel habe ich über die Familien erfahren können. Jetzt zu den Tatsachen.

Am dritten Juni – also am vergangenen Montag – hat McCarthy sein Haus in Hatherley gegen drei Uhr nachmittags verlassen und ist zum Boscombe Pool hinuntergegangen, einem kleinen See, den der Fluß, der durch das

Boscombe Valley fließt, an dieser Stelle bildet. Morgens war er mit seinem Diener in Ross gewesen und hatte dem Mann gesagt, er müsse sich beeilen, weil er um drei Uhr eine wichtige Verabredung einzuhalten habe. Er ist von dieser Verabredung nicht lebendig zurückgekehrt.

Vom Farmhaus Hatherley zum Boscombe Pool ist es eine Viertelmeile, und zwei Leute haben ihn auf dem Weg dorthin gesehen. Einmal eine alte Frau, deren Name nicht erwähnt wird, und zum anderen William Crowder, ein Wildhüter in Diensten von Mr. Turner. Diese beiden Zeugen erklären, daß Mr. McCarthy allein war, als sie ihn sahen. Der Wildhüter sagt außerdem, einige Minuten, nachdem er Mr. McCarthy habe vorbeigehen sehen, habe er auch dessen Sohn, Mr. James McCarthy gesehen, der mit einem Gewehr unter dem Arm in die gleiche Richtung ging. Er ist ziemlich sicher, daß der Vater zu diesem Zeitpunkt noch in Sichtweite war und daß der Sohn ihm gefolgt ist. Er hat nicht weiter darüber nachgedacht, bis er abends von der Tragödie hörte, die sich ereignet hatte.

Auch nachdem der Wildhüter William Crowder sie aus den Augen verloren hatte, sind die beiden McCarthys noch gesehen worden. Der Boscombe Pool ist von dichtem Gehölz umgeben und hat einen kleinen Saum aus Gras und Schilf gleich am Ufer. Ein vierzehnjähriges Mädchen, Patience Moran, die Tochter des Pförtners vom Herrenhaus Boscombe Valley, war in dem Gehölz, um Blumen zu pflücken. Sie sagt aus, daß sie, als sie dort war, am Waldrand und nahe am See Mr. McCarthy und seinen Sohn gesehen hat, und beide hätten anscheinend heftig miteinander gestritten. Sie hat gehört, wie der ältere Mr. McCarthy seinen Sohn in sehr üblen Worten beschimpfte, und sie hat gesehen, wie der Sohn die Hand hob, als wollte er seinen Vater schlagen. Sie war über die Heftigkeit der beiden so erschrocken, daß sie fortgelaufen ist und ihrer Mutter, als sie zu Hause ankam, erzählt hat, sie habe die beiden McCarthys am Boscombe Pool streiten sehen und befürchtet, sie könnten sich schlagen. Das hatte sie kaum gesagt, als der junge Mr. McCarthy zum Pförtnerhaus gelaufen kam und sagte, er habe seinen Vater tot im Wald aufgefunden und wolle den Pförtner zu Hilfe holen. Er war sehr erregt und hatte weder den Hut noch das Gewehr bei sich, und seine rechte Hand und sein rechter Ärmel sollen von frischem Blut beschmiert gewesen sein. Als sie ihm folgten, haben sie den Leichnam des Vaters gefunden, ausgestreckt im Gras neben dem Pool. Der Schädel war mit mehreren Schlägen von einer schweren, stumpfen Waffe eingeschlagen worden. So, wie die Verletzungen aussahen, konnten sie sehr wohl vom Kolben des Gewehrs seines Sohnes stammen, und die Waffe wurde nur wenige Schritte vom

Leichnam entfernt im Gras gefunden. Unter diesen Umständen wurde der junge Mann sofort festgenommen, und nachdem die Untersuchung am Dienstag zu dem Ergebnis ›Vorsätzlicher Mord‹ gekommen war, wurde er am Mittwoch den Behörden in Ross vorgeführt, die den Fall an die nächste Tagung des Schwurgerichts überwiesen haben. Das sind die wichtigsten Tatsachen in diesem Fall, so wie sie sich bei der Leichenschau[2] und vor dem Polizeigericht[3] dargestellt haben.«

»Ich kann mir kaum einen eindeutigeren Fall vorstellen«, bemerkte ich. »Wenn je alle Indizien auf einen Verbrecher hingewiesen haben, dann hier.«

»Indizien sind immer eine verzwickte Sache«, erwiderte Holmes gedankenverloren; »sie verweisen oft scheinbar eindeutig auf etwas, aber wenn man seine eigene Perspektive ein klein wenig verändert, stellt man möglicherweise fest, daß sie genauso unmißverständlich auf etwas ganz anderes deuten. Man muß aber zugeben, daß die Sache äußerst schlecht für den jungen Mann aussieht, und es ist sehr gut möglich, daß er tatsächlich der Schuldige ist. In der Nachbarschaft gibt es aber eine Reihe von Leuten, darunter auch Miss Turner, die Tochter des benachbarten Gutsbesitzers, die an seine Unschuld glauben, und die Lestrade, an den Sie sich vielleicht in Zusammenhang mit der Studie in Scharlachrot erinnern, angehalten haben, den Fall im Interesse des jungen Mannes zu bearbeiten. Lestrade findet alles einigermaßen verwirrend und hat den Fall an mich weitergegeben, und so kommt es, daß zwei Gentlemen mittleren Alters mit fünfzig Meilen pro Stunde gen Westen rasen, statt in aller Ruhe zu Hause ihr Frühstück zu verdauen.«

»Ich fürchte«, sagte ich, »die Tatsachen sind so offensichtlich, daß Sie feststellen werden, mit diesem Fall ist wenig Ruhm zu ernten.«

»Nichts ist trügerischer als eine offensichtliche Tatsache«, antwortete er lachend. »Außerdem könnten wir zufällig weitere offensichtliche Tatsachen finden, die für Mr. Lestrade gar nicht so offensichtlich waren. Sie kennen mich gut genug um zu wissen, daß ich nicht angebe, wenn ich sage, daß ich mit Mitteln, die anzuwenden oder auch nur zu verstehen er völlig außerstande ist, seine Theorie entweder bestätigen oder vernichten werde. Um das erste Beispiel zu nehmen, das sich anbietet: Ich stelle sehr eindeutig fest, daß das Fenster in Ihrem Schlafzimmer rechter Hand ist, und dennoch bezweifle ich, daß Mr. Lestrade sogar eine so offensichtliche Tatsache wie diese bemerkt haben würde.«

»Wie um alles in der Welt …!«

»Mein lieber Freund, ich kenne Sie gut. Ich kenne die militärische Sauberkeit, die Sie auszeichnet. Sie rasieren sich jeden Morgen, und in dieser Jahreszeit rasieren Sie sich bei Sonnenschein, aber da Ihre Rasur immer weniger gründlich wird, je weiter wir uns auf Ihrer Wange nach links begeben, bis sie am Ende des Kinnbackens wirklich schlampig wird, ist es doch sehr klar, daß diese Seite weniger gut beleuchtet ist als die andere. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Mann mit Ihren Gewohnheiten sich bei gleichmäßigem Licht betrachtet und mit einem derartigen Ergebnis zufrieden ist. Ich gebe das hier nur als triviales Beispiel für Beobachtung und Schlußfolgerung. Das ist mein métier, und es ist durchaus möglich, daß es in der vor uns liegenden Untersuchung ein wenig hilfreich ist. Es gibt einen oder zwei kleinere Punkte, die sich bei der Leichenschau ergaben und die durchaus eine nähere Betrachtung verdienen.«

»Wie sehen sie aus?«


»Es scheint, daß diese Festnahme nicht sofort, sondern erst nach der Rückkehr zur Hatherley Farm erfolgt ist. Als der Polizeiinspektor ihm mitteilte, er sei nun ein Gefangener, hat McCarthy bemerkt, ihn überrasche das nicht, und er habe nichts anderes verdient. Diese seine Bemerkung hatte natürlich zur Folge, daß alle Anflüge von Zweifel, die noch in den Köpfen der Leichenschau-

Kommission gewesen sein mögen, zerstreut wurden.« »Das war ein Geständnis«, rief ich aus.

»Nein, denn anschließend hat er beteuert, er sei unschuldig.«

»Am Ende einer so belastenden Reihe von Umständen war es jedenfalls zumindest eine sehr verdächtige Bemerkung.«

»Im Gegenteil«, sagte Holmes. »Das ist der hellste Riß, den ich im Moment in den Wolken sehen kann. Wie unschuldig er auch immer sein mag, er kann doch nicht ein so vollkommener Trottel sein, daß er nicht sieht, wie schlimm die Umstände gegen ihn sprechen. Wenn er von seiner Festnahme überrascht gewesen wäre oder Empörung vorgespielt hätte, das hätte ich als überaus verdächtig angesehen, weil unter den Umständen Überraschung oder Zorn unvernünftig gewesen wären, einem Mann mit Hintergedanken aber als beste Verhaltensweise erscheinen könnten. Daß er die Situation so freimütig hingenommen hat, zeigt, daß er entweder unschuldig oder aber ein Mann mit beachtlicher Selbstbeherrschung und Standhaftigkeit ist. Was seine Bemerkung angeht, er habe nichts anderes verdient, so war auch sie keineswegs unvernünftig, wenn man bedenkt, daß er neben dem Leichnam seines Vaters stand und daß es keinen Zweifel daran gibt, daß er am gleichen Tag seine Sohnespflichten so weit vergessen hatte, daß er heftige Worte mit ihm wechselte und nach der Aussage des Mädchens, die sehr wichtig ist, sogar die Hand erhoben hatte, als ob er ihn schlagen wollte. Die Selbstvorwürfe und die Zerknirschung, die aus seiner Bemerkung sprechen, scheinen mir eher auf einen gesunden als auf einen schuldigen Geist hinzuweisen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Viele Männer sind auf Grund von viel schlechteren Beweisen gehängt worden«, meinte ich.

»Das stimmt. Und viele Männer sind zu Unrecht gehängt worden.«

»Wie stellt der junge Mann selbst die Sache dar?«

»Seine Darstellung ist, fürchte ich, nicht sehr ermutigend für die, die an seine Unschuld glauben, wenn auch ein Punkt oder zwei darin sehr interessant sind. Sie können es hier finden und selbst lesen.«

Er zog aus seinem Bündel ein Exemplar der örtlichen Zeitung aus Herefordshire, und nachdem er die Seite überflogen hatte, zeigte er mir den Abschnitt mit der Darstellung des unglücklichen jungen Mannes über die Vorfalle. Ich ließ mich in einer Ecke des Abteils nieder und las es sehr aufmerksam. Der Text lautete folgendermaßen:

Mr. James McCarthy, der einzige Sohn des Verstorbenen, wurde dann aufgerufen und sagte aus wie folgt: »Ich war drei Tage von zu Hause fortgewesen, in Bristol, und war am letzten Montag, dem 3., gerade erst morgens zurückgekehrt. Zum Zeitpunkt meiner Ankunft war mein Vater nicht zu Hause, und vom Dienstmädchen erfuhr ich, daß er mit John Cobb, dem Knecht, nach Ross gefahren war. Kurz nach meiner Rückkehr hörte ich die Räder seines Wagens im Hof, und als ich aus dem Fenster sah, sah ich, wie er ausstieg und eilig den Hof verließ, wenn mir auch nicht ersichtlich war, in welche Richtung. Ich nahm daraufhin mein Gewehr und schlenderte in Richtung Boscombe Pool in der Absicht, nach dem Kaninchenbau zu schauen, der auf der anderen Seite liegt. Auf dem Weg sah ich den Wildhüter William Crowder, wie er in seiner Aussage erklärt hat; er irrt sich aber, wenn er annimmt, ich sei meinem Vater gefolgt. Ich hatte keine Ahnung, daß er vor mir war. Als ich noch etwa hundert Yards vom Pool entfernt war, hörte ich den Schrei ›Cooee!‹, ein gebräuchliches Signal zwischen meinem Vater und mir. Daraufhin eilte ich vorwärts und traf ihn neben dem Pool stehend an. Er schien sehr überrascht zu sein, mich zu sehen, und fragte mich ziemlich grob, was ich dort täte. Es kam zu einem Gespräch, das zu lauten Worten und fast zu Schlägen führte, denn mein Vater war ein Mann von sehr hitzigem Temperament. Als ich sah, daß er seine Wut nicht länger bezähmen konnte, habe ich ihn allein gelassen und bin nach Hatherley Farm zurückgekehrt. Ich hatte jedoch erst hundertfünfzig Yards zurückgelegt, als ich hinter mir einen entsetzlichen Schrei hörte, der mich dazu brachte, sofort zurückzulaufen. Ich fand meinen Vater sterbend auf dem Boden, mit schrecklichen Kopfverletzungen. Ich ließ mein Gewehr fallen und hielt ihn in den Armen, aber er starb fast unmittelbar darauf. Ich blieb einige Minuten neben ihm auf den Knien und habe mich dann zu Mr. Turners Pförtnerhaus aufgemacht, dessen Haus das nächste erreichbare war, um ihn um Hilfe zu bitten. Bei meiner Rückkehr habe ich niemanden in der Nähe meines Vaters gesehen, und ich habe auch keine Vorstellung davon, wie er an diese Verletzungen gekommen sein kann. Er war nicht beliebt, da er in seinem Wesen eher kalt und abweisend war, aber soweit ich weiß, hatte er keine wirklichen Feinde. Mehr weiß ich nicht über die Sache.«

Coroner: »Hat Ihr Vater Ihnen noch etwas gesagt, bevor er starb?«

Zeuge: »Er hat ein paar Worte gemurmelt, aber ich konnte nichts verstehen außer einem Hinweis auf eine Ratte.«

Coroner: »Können Sie sich das erklären?« Zeuge: »Es ergab für mich keinen Sinn. Ich dachte, er phantasiert.«

Coroner: »Worum ging es bei diesem letzten Streit zwischen Ihnen und Ihrem Vater?« Zeuge: »Ich möchte nicht darauf antworten.«

Coroner. »Ich fürchte, ich muß darauf bestehen.« Zeuge: »Es ist mir wirklich unmöglich, Ihnen das zu sagen. Ich kann Ihnen nur versichern, daß es mit der folgenden schrecklichen Tragödie nichts zu tun hat.« Coroner: »Die Entscheidung darüber liegt beim Gericht. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß Ihre Weigerung zu antworten, Ihren Fall in einem möglichen künftigen Verfahren negativ beeinflussen kann.«


Zeuge: »Ich muß trotzdem die Aussage verweigern.«

Coroner: »Verstehe ich Sie recht, daß der Schrei

›Cooee‹ ein Erkennungssignal zwischen Ihnen und

Ihrem Vater war?«

Zeuge: »Ja.«

Coroner: »Wie ist es denn dann möglich, daß er diesen Schrei ausstieß, bevor er Sie gesehen hatte und sogar bevor er wußte, daß Sie aus Bristol zurückgekommen waren?«

Zeuge (in beträchtlicher Verwirrung): »Ich weiß es nicht.«

Mitglied der Jury: »Als Sie den Schrei hörten und umgekehrt sind und Ihren Vater tödlich verwundet vorfanden, haben Sie da irgend etwas Verdächtiges gesehen?«

Zeuge: »Nichts Bestimmtes.«

Coroner: »Wie meinen Sie das?«

Zeuge: »Ich war so verwirrt und aufgeregt, als ich da aus dem Gehölz ins Freie stürzte, daß ich an nichts anderes denken konnte als an meinen Vater. Trotzdem hatte ich den undeutlichen Eindruck, daß etwas links von mir auf dem Boden lag, als ich vorwärts rannte. Es schien mir etwas Graues zu sein, eine Art Mantel, vielleicht ein Plaid. Als ich von meinem Vater wieder aufschaute, habe ich mich danach umgesehen, aber es war fort.« »Sie meinen, es war verschwunden, bevor Sie Hilfe geholt haben?« »Ja, es war weg.«

»Sie können nicht sagen, was es war?«

»Nein, ich hatte nur ein Gefühl, daß da etwas war.«

»Wie weit von der Leiche entfernt?«

»Ein Dutzend Yards oder so.«

»Und wie weit entfernt vom Waldrand?«

»Ungefähr gleich weit.«

»Wenn es also entfernt worden ist, dann zu einem

Zeitpunkt, als Sie nicht weiter als ein Dutzend

Yards entfernt waren?«

»Ja, aber mit dem Rücken in diese Richtung.« Damit war die Befragung des Zeugen beendet.

»Ich sehe hier«, sagte ich, während ich die Spalte noch einmal überflog, »daß der Coroner bei seinen abschließenden Bemerkungen mit dem jungen McCarthy reichlich streng umgesprungen ist. Er lenkt, und zwar zu Recht, die Aufmerksamkeit auf den Widerspruch, daß sein Vater ihm ein Zeichen gegeben haben soll, bevor er ihn überhaupt gesehen hat, und auch auf seine Weigerung, Einzelheiten über sein Gespräch mit dem Vater mitzuteilen, und auf den seltsamen Bericht über die letzten Worte des Vaters. All das spricht, wie er feststellt, sehr stark gegen den Sohn.«

Holmes lachte leise in sich hinein und streckte sich auf dem Polstersitz aus. »Sie und der Coroner haben sich beide einige Mühe gemacht«, sagte er, »die Punkte hervorzuheben, die am stärksten für den jungen Mann sprechen. Sehen Sie denn nicht, daß Sie ihn abwechselnd beschuldigen, zu viel und zu wenig Phantasie zu haben? Zu wenig, wenn er für den Streit keinen Grund erfinden könnte, der ihm die Sympathie der Jury einbrächte; zu viel, wenn er nur aus sich heraus eine so ausgefallene Sache wie den Hinweis des Sterbenden auf eine Ratte und die Geschichte mit dem verschwundenen Kleidungsstück vorbringen soll. Nein, Sir; ich werde mich mit diesem Fall von dem Gesichtspunkt aus befassen, daß dieser junge Mann die Wahrheit sagt, und wir werden sehen, wohin diese Hypothese uns führt. So, hier habe ich meinen Taschen-Petrarca, und ich werde kein Wort mehr zu diesem Fall sagen, bis wir am Schauplatz angekommen sind. Wir nehmen unseren Lunch auf der Höhe von Swindon ein, und wie ich sehe, werden wir in zwanzig Minuten dort sein.«

Es war beinahe vier Uhr, als wir endlich in der hübschen Kleinstadt Ross eintrafen, nachdem wir das wunderschöne Tal des Stroud hinter uns gelassen und den breiten, leuchtenden Severn überquert hatten. Ein hagerer, frettchenartiger Mann, der verstohlen und argwöhnisch dreinblickte, erwartete uns auf dem Bahnsteig. Trotz hellbraunen Staubmantels und lederner Gamaschen, die er in Anpassung an die ländliche Umgebung trug, erkannte ich doch mühelos Lestrade von Scotland Yard. Mit ihm fuhren wir zum Hereford Arms Hotel, wo man uns ein Zimmer reserviert hatte.

»Ich habe einen Wagen bestellt«, sagte Lestrade. Wir saßen bei einer Tasse Tee. »Ich weiß doch, wie energisch Sie sind, und daß Sie erst zufrieden sind, wenn Sie am Schauplatz des Verbrechens waren.«

»Sehr nett und zuvorkommend von Ihnen«, antwortete Holmes. »Aber das hängt ganz vom barometrischen Druck ab.«

Lestrade blickte ihn verstört an. »Ich kann Ihnen nicht ganz folgen«, sagte er.

»Was sagt das Glas? Aha, neunundzwanzig. Kein Wind, und keine einzige Wolke am Himmel. Hier habe ich eine Schachtel Zigaretten, die unbedingt geraucht werden müssen, und das Sofa sieht viel besser aus als die üblichen Scheußlichkeiten in Hotels auf dem Lande. Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, daß ich heute abend den Wagen benutzen werde.«

Lestrade lachte nachsichtig. »Sie haben Ihre Schlußfolgerungen zweifellos schon mit Hilfe der Zeitungen gezogen«, sagte er. »Der Fall liegt sonnenklar, und je mehr man sich damit beschäftigt, um so klarer wird er. Andererseits kann man natürlich einer Dame nichts abschlagen, einer so beharrlichen dazu. Sie hat von Ihnen gehört und will wissen, was Ihre Meinung hierzu ist, obwohl ich ihr mehrmals gesagt habe, Sie könnten hier auch nichts tun, was ich nicht schon getan hätte. Ach du liebe Zeit! Da ist ihr Wagen!«

Er hatte es kaum gesagt, als eine der hübschesten jungen Frauen ins Zimmer stürzte, die ich im Leben je gesehen habe. Ihre blauen Augen leuchteten, ihr Mund war leicht geöffnet, ein rosa Hauch lag auf ihren Wangen, jeder Gedanke an ihre natürliche Zurückhaltung war untergegangen in überwältigender Erregung und Besorgnis.

»Oh, Mr. Sherlock Holmes!« rief sie; sie blickte zwischen uns hin und her und wandte sich schließlich mit der schnellen Intuition einer Frau an meinen Gefährten. »Ich bin so froh, daß Sie gekommen sind. Ich bin mit dem Wagen hergekommen, um Ihnen das zu sagen. Ich weiß, daß James es nicht getan hat. Ich weiß es, und ich möchte, daß auch Sie es wissen, bevor Sie mit Ihrer Arbeit beginnen. Bitte zweifeln Sie nie daran. Wir kennen einander, seit wir kleine Kinder waren, und ich kenne seine Fehler besser als jeder andere; aber er hat ein so weiches Herz, daß er nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun kann. Für jeden, der ihn wirklich kennt, ist diese Beschuldigung absurd.«

»Ich hoffe, wir können ihn davon reinwaschen, Miss Turner«, sagte Sherlock Holmes. »Sie können sich darauf verlassen, daß ich alles tun werde, was ich kann.«

»Aber Sie kennen doch die Beweislage. Haben Sie schon Schlüsse gezogen? Sehen Sie nicht vielleicht ein Schlupfloch, irgendeine Schwachstelle? Glauben Sie vielleicht selbst auch, daß er unschuldig ist?«

»Ich halte es für sehr wahrscheinlich.«

»Da hören Sie es!« rief sie. Sie warf ihren Kopf zurück und blickte Lestrade trotzig an. »Haben Sie es gehört? Er macht mir Hoffnung.«

Lestrade zuckte mit den Schultern. »Ich fürchte, mein Kollege hat seine Schlüsse ein bißchen voreilig gezogen«, sagte er.

»Aber er hat recht. Oh, ich weiß, daß er recht hat! James kann das nie getan haben. Und dieser Streit mit seinem Vater. Ich bin sicher, der Grund, weshalb er dem Coroner nichts darüber sagen wollte, ist, daß ich davon betroffen bin.«

»Inwiefern?« fragte Holmes.

»Es ist jetzt nicht der Zeitpunkt für mich, irgend etwas zu verheimlichen. James und sein Vater hatten meinetwegen viele Meinungsverschiedenheiten. Mr. McCarthy hat immer großen Wert darauf gelegt, daß wir irgendwann heiraten. James und ich haben einander immer wie Bruder und Schwester geliebt, aber er ist natürlich jung und hat noch so wenig vom Leben gesehen und … und … also, er wollte natürlich noch nichts Derartiges tun. Deswegen gab es Streit, und ich bin sicher, dieser Streit war auch so einer.«

»Und Ihr Vater?« fragte Holmes. »War er für solch eine Verbindung?«

»Nein, er war auch dagegen. Niemand außer Mr. McCarthy war dafür.« Eine jähe Röte überzog ihr frisches, junges Gesicht, als Holmes ihr einen seiner scharfen, forschenden Blicke zuwarf.

»Ich danke Ihnen für diese Information«, sagte er. »Kann ich Ihren Vater sprechen, wenn ich morgen vorbeikomme?«

»Ich fürchte, das wird der Doktor nicht erlauben.«

»Der Doktor?«


»Ja, wußten Sie das nicht? Mein armer Vater ist schon seit vielen Jahren nicht sehr gesund, aber das hat ihn völlig zusammenbrechen lassen. Er mußte sich hinlegen, und Dr. Willows sagt, er muß mindestens eine Woche im Bett bleiben, und sein Nervensystem ist völlig zerrüttet. Mr. McCarthy war der einzige lebende Mensch, der Vater früher in Victoria gekannt hat.«

»Ha! In Victoria! Das ist sehr wichtig.«

»Ja, in den Minen.«

»Genau; in den Goldminen, wo Mr. Turner, wenn ich mich nicht irre, sein Vermögen gemacht hat.«

»Ja, das ist richtig.«

»Ich danke Ihnen, Miss Turner. Sie haben mir wirklich sehr geholfen.«

»Sagen Sie es mir bitte, wenn Sie morgen etwas Neues wissen! Sie werden doch bestimmt ins Gefängnis gehen, um mit James zu sprechen. Oh, Mr. Holmes, wenn Sie hingehen, sagen Sie ihm doch bitte, ich weiß, daß er unschuldig ist.«

»Ich werde es ihm sagen, Miss Turner.«

»Ich muß jetzt heimfahren, denn Vater ist sehr krank, und er vermißt mich so sehr, wenn ich fort bin. Good-bye, und möge Gott Ihnen bei Ihrer Arbeit beistehen.« So impulsiv, wie sie ihn betreten hatte, verließ sie den Raum, und wir hörten die Räder ihres Wagens die Straße hinabrattern. »Ich schäme mich für Sie, Holmes«, sagte Lestrade würdevoll nach mehrminütigem Schweigen. »Wie können Sie nur Hoffnungen wecken, die Sie doch enttäuschen müssen? Ich bin nicht gerade weichherzig, aber das nenne ich grausam.«

»Ich glaube, ich weiß schon, wie ich James McCarthy freibekomme«, sagte Holmes. »Haben Sie die Erlaubnis, ihn im Gefängnis aufzusuchen?«

»Ja, aber nur für Sie und mich.«

»Dann werde ich wohl meinen Entschluß, nicht mehr auszugehen, revidieren. Haben wir noch genug Zeit, um einen Zug nach Hereford zu nehmen und mit ihm heute abend zu reden?«

»Reichlich.«

»Dann sollten wir das tun. Watson, ich fürchte, für Sie wird es langweilig sein, aber ich werde nur ein paar Stunden fortbleiben.«

Ich ging mit ihnen zum Bahnhof hinab und wanderte anschließend durch die Straßen der kleinen Stadt, bis ich zum Hotel zurückkehrte, wo ich es mir auf dem Sofa bequem machte und mich für einen billigen Schmöker zu interessieren suchte. Die Handlung der Geschichte war jedoch allzu dünn und erbärmlich, wenn ich sie mit dem dunklen Rätsel verglich, durch das wir uns tasteten, und meine Gedanken schweiften von der Dichtung immer wieder zur Wirklichkeit ab, so daß ich schließlich das Buch an die Wand warf und mich ganz einer Betrachtung der Ereignisse des Tages hingab. Angenommen, die Geschichte dieses unglücklichen jungen Mannes wäre absolut wahr – welche Teufelei, welches völlig unvorhersehbare und außerordentliche Unheil konnte sich dann zwischen dem Zeitpunkt, da er von seinem Vater schied, und dem Augenblick ereignet haben, da er, von den Schreien zurückgerufen, auf die Lichtung stürzte? Es mußte etwas Schreckliches und Tödliches sein. Was konnte es nur sein? Könnte die Art der Verletzungen nicht vielleicht meinem ärztlichen Instinkt etwas verraten? Ich läutete und ließ mir die örtliche Wochenzeitung bringen, die einen wortwörtlichen Bericht über die Leichenschau enthielt. Der Arzt stellte in seinem Bericht fest, daß das hintere Drittel des linken Scheitelbeins und die linke Hälfte des Hinterhaupt-Knochens durch einen schweren Schlag mit einer stumpfen Waffe zerschmettert worden waren. Ich berührte die Stelle an meinem eigenen Kopf. Offenbar konnte ein solcher Schlag nur von hinten geführt worden sein. Das sprach in gewisser Weise zugunsten des Angeklagten, da er ja seinem Vater gegenüber gestanden hatte, als man sie miteinander streiten sah. Viel ließ sich jedoch nicht damit machen, denn der Ältere mochte ihm durchaus den Rücken gekehrt haben, ehe der Schlag fiel. Dennoch konnte es nützlich sein, Holmes’ Aufmerksamkeit hierauf zu lenken. Dann war da der merkwürdige Hinweis des Sterbenden auf eine Ratte. Was konnte das bedeuten? Delirium konnte es nicht sein. Ein Mann, der an einem jähen Schlag stirbt, deliriert normalerweise nicht. Nein, mit größerer Wahrscheinlichkeit war es ein Versuch gewesen, zu erklären, wie ihn das Unheil ereilt hatte. Aber worauf konnte das hindeuten? Und dann die Geschichte mit dem grauen Tuch, das der junge McCarthy gesehen hatte. Wenn es stimmte, dann mußte der Mörder auf der Flucht einen Teil seiner Kleidung verloren haben, vermutlich den Mantel, und hatte dann die Kühnheit besessen, umzukehren und ihn zu holen, in dem Augenblick, da der Sohn keine zwölf Schritte entfernt kniete und ihm den Rücken zuwandte. Welch ein Gewirk von Rätseln und Unwahrscheinlichkeiten die ganze Sache doch war! Über Lestrades Meinung war ich nicht verwundert, und doch hatte ich so viel Vertrauen zu Sherlock Holmes’ Scharfsinn, daß ich nicht bereit war, die Hoffnung aufzugeben, solange jede neu ans Licht kommende Tatsache seine Überzeugung, daß der junge McCarthy unschuldig sei, zu stärken schien.

Es wurde spät, ehe Sherlock Holmes zurückkehrte. Er kam allein, denn Lestrade hatte in der Stadt Quartier genommen.


»Das Barometer ist noch immer sehr hoch«, bemerkte er, als er sich niederließ. »Es ist wichtig, daß es nicht regnet, bevor wir uns den Boden haben ansehen können. Andererseits sollte man in bester Verfassung und besonders wach sein, wenn es um eine so hübsche Arbeit geht, und ich wollte nicht damit anfangen, solange ich noch erschöpft bin von einer langen Reise. Ich habe mit dem jungen McCarthy gesprochen.«

»Und was haben Sie von ihm erfahren?«

»Nichts.«

»Konnte er kein Licht in die Sache bringen?«

»Überhaupt gar keines. Eine Weile neigte ich zu der Annahme, daß er weiß, wer es getan hat, und nun ihn oder sie decken will, aber inzwischen bin ich davon überzeugt, daß er genauso im dunkeln tappt wie alle anderen. Er ist nicht übermäßig gescheit, sieht aber gut aus und hat, glaube ich, ein gutes Herz.«

»Seinen Geschmack kann ich aber nicht bewundern«, bemerkte ich, »wenn es tatsächlich stimmt, daß er eine so charmante junge Dame wie diese Miss Turner nicht heiraten will.«

»Ah, daran hängt eine sehr schmerzliche Geschichte! Dieser Junge ist bis über beide Ohren und den Verstand in sie verliebt, aber vor zwei Jahren, als er noch ein halbes Kind war, und bevor er sie wirklich kannte – sie war nämlich fünf Jahre lang in einem Internat gewesen –, was macht der Trottel da? Er fällt einem Barmädchen in Bristol in die Klauen und heiratet sie standesamtlich. Niemand weiß auch nur das Geringste davon, aber Sie können sich wohl vorstellen, wie rasend es ihn machen muß, daß man ihm vorwirft, etwas nicht zu tun, wofür er alles gäbe, wenn er es tun könnte, wovon er aber weiß, daß es völlig unmöglich ist. Es war nichts als ein Anfall dieser Art, daß er die Hände in die Luft warf, als sein Vater ihn bei ihrem letzten Gespräch wieder anstacheln wollte, Miss Turner einen Antrag zu machen. Andererseits konnte er nicht für seinen eigenen Unterhalt aufkommen, und sein Vater, der, nach allem, was man hört, ein sehr harter Mann gewesen sein muß, hätte ihn zweifellos verstoßen, wenn er die Wahrheit gewußt hätte. Die letzten drei Tage in Bristol hat er mit dieser Barmädchen-Gattin verbracht, und sein Vater wußte nicht, wo er war. Beachten Sie diesen Punkt; er ist wichtig. Trotzdem ist aus all dem Schlechten Gutes erwachsen; das Barmädchen hat den Zeitungen entnommen, daß er in ernsten Schwierigkeiten steckt und wahrscheinlich gehängt wird, deshalb hat sie sich völlig von ihm losgesagt und ihm geschrieben, daß sie in der Bermuda-Werft schon einen Ehemann hat, so daß zwischen ihnen in Wahrheit gar kein Band besteht. Ich glaube, daß diese Neuigkeit den jungen McCarthy bei allem Erlittenen ein wenig getröstet hat.«

»Wenn er aber unschuldig ist, wer hat es dann getan?«

»Ah! Wer? Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit besonders auf zwei Punkte lenken. Der erste ist, daß der Ermordete am Pool mit jemandem verabredet war und daß dieser Jemand nicht sein Sohn gewesen sein kann, denn der Sohn war abwesend, und der Vater wußte nicht, wann er zurückkommen würde. Der zweite Punkt ist, daß man den Ermordeten ›Cooee!‹ hat rufen hören, bevor er wußte, daß sein Sohn heimgekommen war. Dies sind die entscheidenden Punkte, von denen der ganze Fall abhängt. Aber jetzt wollen wir lieber über George Meredith[4] reden, wenn Sie mögen, und kleinere Fragen bis morgen ruhen lassen.«

Wie Holmes vorhergesagt hatte, regnete es nicht, und der Morgen brach hell und wolkenlos an. Um neun Uhr holte Lestrade uns mit dem Wagen ab, und wir machten uns auf den Weg nach Hatherley Farm und Boscombe Pool.

»Es gibt heute morgen schlechte Neuigkeiten«, bemerkte Lestrade. »Es heißt, daß Mr. Turner vom Herrenhaus so krank ist, daß man ihn aufgegeben hat.«

»Ich nehme an, er ist ein älterer Mann?« sagte Holmes.

»Um die sechzig, aber sein Leben in der Fremde hat seine Konstitution ruiniert, und er war schon seit einiger Zeit bei immer schlechterer Gesundheit. Diese Geschichte hat ihn übel mitgenommen. Er war ein alter Freund von McCarthy und außerdem sein großer Wohltäter; wie ich erfahren habe, hat er ihm nämlich Hatherley Farm pachtfrei überlassen.«

»Tatsächlich! Das ist interessant«, sagte Holmes.

»Ja, gewiß! Und er hat ihm auf hundert andere Arten geholfen. Alle Leute hier in der Gegend reden von seiner Güte ihm gegenüber.«

»Tatsächlich! Kommt es Ihnen nicht ein wenig eigenartig vor, daß dieser McCarthy, der kaum etwas besessen zu haben scheint und wohl Turner so sehr verpflichtet war, trotzdem davon geredet haben soll, seinen Sohn mit Turners Tochter zu verheiraten, und dazu noch so, als wäre alles todsicher, als ob es nur eine Frage des Antrags wäre, und alles andere würde sich daraus ergeben? Das ist um so befremdlicher, als wir wissen, daß Turner selbst ganz gegen diese Idee war. Das hat uns die Tochter erzählt. Können Sie daraus nichts deduzieren?«

»Damit sind wir wieder bei Deduktionen und Schlußfolgerungen«, sagte Lestrade; er zwinkerte mir zu. »Es fällt mir schwer genug, mit den Tatsachen zurechtzukommen, Holmes, auch ohne Theorien und Phantasien nachzuhängen.«

»Sie haben recht«, sagte Holmes ernsthaft; »es fällt Ihnen wirklich schwer, mit den Tatsachen zurechtzukommen.«

»Wie auch immer, jedenfalls habe ich eine Tatsache begriffen, die zu erfassen Ihnen wohl schwer fällt«, erwiderte Lestrade mit einiger Heftigkeit.

»Und zwar?«

»Daß McCarthy senior durch McCarthy junior den Tod gefunden hat und daß alle gegenteiligen Theorien Irrlichter sind.«

»Nun ja, Irrlichter sind immerhin heller als Dunst«, sagte Holmes lachend. »Aber wenn ich mich nicht sehr irre, ist das da links Hatherley Farm.«

»Ja, das ist es.« Es war ein breites Gebäude von gemütlichem Aussehen, mit zwei Stockwerken, Schieferdach und großen gelben Flechtenflecken auf den grauen Wänden. Die verhängten Fenster und die Kamine ohne Rauch gaben ihm jedoch ein niedergeschlagenes Aussehen, als läge die Last dieses Schreckens noch immer schwer auf ihm. Wir klopften an die Tür, und auf Holmes’ Bitte zeigte das Dienstmädchen uns die Stiefel, die ihr Herr zum Zeitpunkt seines Todes getragen hatte, außerdem ein Paar Stiefel des Sohns, wenn auch nicht jenes, das er damals angehabt hatte. Nachdem er sie von sieben oder acht verschiedenen Ansatzpunkten aus gründlich abgemessen hatte, äußerte Holmes den Wunsch, man möge ihn in den Hof führen, von wo wir alle dem mäandrierenden Pfad folgten, der zum Boscombe Pool führt.

Sherlock Holmes war wie verwandelt, wenn er so dicht auf einer solchen Spur war. Wer nur den stillen Denker und Logiker aus der Baker Street kannte, hätte ihn nun nicht wiedererkannt. Sein Gesicht war erregt und verdüstert. Die Brauen waren zu zwei harten schwarzen Strichen geworden, unter denen seine Augen mit einem stählernen Glitzern hervorleuchteten. Sein Gesicht war nach unten gerichtet, die Schultern vorgebeugt, die Lippen zusammengepreßt, und vom langen sehnigen Hals hoben sich die Adern wie Peitschenschnüre ab. Seine Nasenflügel schienen sich in rein tierischer Jagdlust aufzublähen, und sein Geist war so ausschließlich auf die vor ihm liegende Sache konzentriert, daß Fragen oder Bemerkungen ungehört an ihm vorbeistrichen oder bestenfalls ein schnelles, ungeduldiges Knurren als Antwort hervorriefen. Schnell und stumm legte er den Weg zurück, der sich durch die Wiesen und dann durch den Wald zum Boscombe Pool windet. Der Boden war feucht und sumpfig, wie überall in dieser Gegend, und sowohl auf dem Pfad als auch in dem kurzen Gras, das ihn auf beiden Seiten umgab, waren die Spuren von vielen Füßen zu sehen. Manchmal eilte Holmes vor, dann plötzlich blieb er regungslos stehen, und einmal machte er einen ziemlichen Umweg durch die Wiesen. Lestrade und ich gingen hinter ihm her; der Detektiv war gleichgültig und voller Verachtung, während ich meinen Freund mit einem Interesse beobachtete, das aus der Überzeugung erwuchs, daß jede einzelne seiner Handlungen auf ein bestimmtes Ziel gerichtet war.


Boscombe Pool ist eine etwa fünfzig Yards durchmessende, von Ried gesäumte Wasserfläche und liegt an der Grenze zwischen Hatherley Farm und dem privaten Park des wohlhabenden Mr. Turner. Oberhalb des Gehölzes auf der gegenüberliegenden Seite des Pools sahen wir die spitzen Giebeltürmchen rot aufragen, die uns anzeigten, an welcher Stelle sich die Behausung des reichen Landbesitzers befand. Auf der Hatherley zugewandten Seite des Pools war das Gehölz sehr dicht, und zwischen dem

Schilf, das den See säumte, und dem Waldrand erstreckte sich ein schmaler, etwa zwanzig Schritt breiter Gürtel feuchten Grases. Lestrade zeigte uns den genauen Fleck, an dem man den Leichnam gefunden hatte, und das Gras war wirklich so feucht, daß ich die Umrisse deutlich sehen konnte, die der erschlagene Mann bei seinem Sturz hinterlassen hatte. Wie ich an seinem eifrigen Gesicht und den suchenden Augen sah, waren für Holmes noch viele weitere Dinge im zertrampelten Gras zu lesen. Er lief im Kreis umher wie ein Hund, der eine Fährte aufnimmt, und wandte sich dann an meinen Begleiter.

»Warum sind Sie in den Pool gestiegen?« fragte er.

»Ich habe mit einem Rechen darin gefischt. Ich dachte, vielleicht findet sich eine Waffe oder sonst eine Spur. Aber wie um alles in der Welt …?«

»Oh ts ts! Ich habe keine Zeit. Ihr linker Fuß da, mit der Drehung nach innen, findet sich überall. Sogar ein Maulwurf könnte Ihrer Spur folgen, und hier verschwindet sie im Schilf. Oh, wie einfach hätte alles sein können, wenn ich nur hier gewesen wäre, bevor sie alle wie eine Büffelherde angekommen sind und alles zertrampelt haben. Hier ist die Gruppe mit dem Pförtner angekommen, und im Umkreis von sechs bis acht Fuß um die Leiche haben sie alle Spuren ausgelöscht. Aber hier sind drei einzelne Spuren von den gleichen Füßen.« Er zog ein

Vergrößerungsglas hervor und legte sich auf seinen wasserdichten Mantel, um besser sehen zu können; dabei redete er unausgesetzt eher mit sich als zu uns. »Das sind die Füße des jungen McCarthy. Zweimal ist er hier gegangen, und einmal schnell gelaufen, deshalb sind die Sohlen tief eingedrückt und die Absätze kaum zu sehen. Das stützt seine Geschichte. Er ist gerannt, als er seinen Vater am Boden liegen sah. Das hier, das sind die Füße des Vaters, als er hin und her gegangen ist. Was ist denn das da? Das ist das Ende des Gewehrkolbens, wo der Sohn gestanden und zugehört hat. Und das? Ha! Ha! Was haben wir denn da? Zehenspitzen, Zehenspitzen! Außerdem quadratisch, ziemlich ungewöhnliche Stiefel! Sie kommen, sie gehen, sie kommen wieder – natürlich, um den Mantel zu holen. Aber wo sind sie hergekommen?« Er lief auf und ab, verlor die Spur aus den Augen, fand sie wieder, bis wir den Waldrand erreicht und überschritten hatten und uns im Schatten einer großen Buche befanden, des größten Baumes weit und breit. Holmes folgte der Spur bis jenseits der Buche, dann legte er sich wieder nieder, preßte das Gesicht auf den Boden und stieß einen leisen Triumphschrei aus. Lange Zeit blieb er dort liegen, wandte Blätter und trockene Zweige um, sammelte etwas, das ich für Staub hielt, in einen Briefumschlag und untersuchte mit seiner Linse nicht nur den Boden, sondern auch die Baumrinde, so hoch er reichen konnte.

Ein kantiger Stein lag im Moos, und auch diesen untersuchte er sorgfältig und steckte ihn ein. Dann folgte er einem Trampelpfad durch den Wald, bis er zur Landstraße kam, wo alle Spuren aufhörten.


»Das war ein sehr interessanter Fall«, bemerkte er; er kehrte zu seinem normalen Benehmen zurück. »Ich nehme an, das graue Haus da rechts dürfte die Pforte sein. Ich glaube, ich werde hineingehen und mit Moran ein Wort wechseln und vielleicht eine kleine Notiz schreiben. Danach können wir zurückfahren und unser Mittagsmahl einnehmen. Sie können schon zum Wagen gehen, ich werde bald nachkommen.«

Es dauerte etwa zehn Minuten, bis wir den Wagen erreicht hatten und nach Ross zurückfahren konnten. Holmes trug immer noch den Stein bei sich, den er im Wald aufgelesen hatte. »Das könnte Sie interessieren, Lestrade«, bemerkte er und hob den Stein hoch. »Damit ist der Mord begangen worden.«

»Ich sehe keine Spuren.«

»Es gibt keine.«

»Woher wissen Sie es denn dann?«

»Unter dem Stein wuchs Gras. Er hat dort erst ein paar Tage gelegen. Einen Platz, von dem der Stein weggenommen worden sein könnte, habe ich nicht gefunden. Der Stein paßt zu den Verletzungen. Es gibt keine Anzeichen, die auf eine andere Waffe hindeuten.«

»Und der Mörder?«

»Ist groß, Linkshänder, hinkt rechts, trägt Jagdstiefel mit dicken Sohlen und einen grauen Mantel, raucht indische Zigarren, benutzt eine Zigarrenspitze und hat ein stumpfes Federmesser in der Tasche, Es gibt noch mehrere andere Hinweise, aber diese hier sollten ausreichen, um uns bei der Suche zu helfen.«

Lestrade lachte. »Ich fürchte, ich bin noch immer skeptisch«, sagte er. »Theorien sind ja sehr schön, aber wir haben es mit einer dickköpfigen britischen Jury zu tun.«

»Nous verrons«, erwiderte Holmes ruhig. »Sie arbeiten nach Ihrer eigenen Methode und ich nach meiner. Heute nachmittag bin ich beschäftigt, und wahrscheinlich kehre ich mit dem Abendzug nach London zurück.«

»Und Sie wollen Ihren Fall unbeendigt lassen?«

»Nein, beendigt.«

»Aber das Rätsel?«

»Ist gelöst.«

»Wer war denn der Verbrecher?«

»Der Gentleman, den ich beschrieben habe.«

»Aber wer ist das?«

»Das kann doch sicher nicht schwierig herauszufinden sein. Die Nachbarschaft ist nicht eben übervölkert.«

Lestrade zuckte mit den Schultern. »Ich bin ein Mann der Praxis«, sagte er, »und ich kann mich wirklich nicht dazu verstehen, durch das Land zu laufen und nach einem linkshändigen Gentleman mit einem lahmen Bein zu suchen. Ganz Scotland Yard würde ja über mich lachen.«

»Wie Sie meinen«, sagte Holmes ruhig. »Ich habe Ihnen Ihre Chance gegeben. Hier ist Ihr Quartier. Goodbye. Ich schreibe Ihnen noch, bevor ich abreise.«

Nachdem wir Lestrade bei seiner Unterkunft gelassen hatten, fuhren wir zu unserem Hotel, wo der Lunch bereits für uns auf dem Tisch stand. Holmes war schweigsam und in Gedanken versunken, mit einem schmerzlichen Gesichtsausdruck, wie einer, der in einer Klemme steckt.

»Sehen Sie mal, Watson«, sagte er, nachdem der Tisch abgeräumt war; »setzen Sie sich auf diesen Stuhl und lassen Sie mich Ihnen eine Weile etwas vorbeten. Ich weiß nicht recht, was ich tun soll, und Ihr Rat wäre mir teuer. Zünden Sie sich eine Zigarre an und lassen Sie mich erklären.«

»Bitte, schießen Sie los.«

»Nun, also, bei der Betrachtung dieses Falles gibt es zwei Punkte in der Erzählung des jungen McCarthy, die uns beiden sofort aufgefallen sind, wenn sie auch mich zu seinen Gunsten und Sie gegen ihn eingenommen haben. Der eine ist die Tatsache, daß der Vater nach Aussage des Sohnes ›Cooee!‹ gerufen haben soll, noch bevor er ihn gesehen hatte. Der zweite ist der sehr merkwürdige Hinweis des Sterbenden auf eine Ratte. Sie wissen ja, er hat einige Wörter gemurmelt, aber dies war alles, was das Ohr des Sohns aufgefangen hat. An diesem zweifachen Punkt muß nun also unsere Nachforschung beginnen, und wir wollen anfangen, indem wir annehmen, daß der Junge die reine Wahrheit gesagt hat.«

»Was ist denn mit diesem ›Cooee!‹?«

»Nun, das kann natürlich nicht dem Sohn gegolten haben. Soweit der Vater wußte, war der Sohn in Bristol. Es war der reine Zufall, daß er in Hörweite war. Das ›Cooee!‹ sollte die Aufmerksamkeit dessen erregen, mit dem er die Verabredung hatte, wer auch immer dies gewesen sein mag. ›Cooee‹ ist aber ein eindeutig australischer Ruf, und zwar einer, der unter Australiern verwendet wird. Man kann also sehr wohl annehmen, daß es sich bei der Person, die McCarthy am Boscombe Pool treffen wollte, um jemanden handelt, der in Australien gewesen ist.«

»Und was ist mit der Ratte?«

Sherlock Holmes zog ein zusammengefaltetes Papier aus seiner Tasche und glättete es auf dem Tisch. »Das ist eine Karte der Kolonie Victoria«, sagte er. »Ich habe gestern abend darum nach Bristol gedrahtet.« Er deckte einen Teil der Karte mit der Hand zu. »Was lesen Sie?« fragte er.

»ARAT[5]«, las ich.

»Und jetzt?« Er nahm die Hand fort.

»BALLARAT.«

»Genau. Das ist das Wort, das der Mann gemurmelt hat, und von dem der Sohn nur die letzten beiden Silben verstand. Der Vater hat versucht, den Namen des Mörders zu artikulieren. Soundso aus Ballarat.« »Das ist wunderbar!« rief ich aus.

»Das ist offensichtlich. Und sehen Sie, damit hatte ich das Feld beträchtlich eingeengt. Vorausgesetzt, daß die Aussage des Sohnes richtig war, ist der Besitz eines grauen Kleidungsstücks ein dritter, sicherer Anhaltspunkt. Aus Nebeln heraus sind wir nun also zu der genauen Vorstellung von einem Australier aus Ballarat mit einem grauen Mantel gelangt.«

»Das stimmt.«

»Und dazu muß er sich in dieser Gegend auskennen, da ja der Pool nur von der Farm oder vom Herrenhaus aus erreichbar ist, und man kann hier kaum mit herumstreunenden Fremden rechnen.«

»Ganz richtig.«

»Dann zu unserer heutigen Expedition. Durch eine Untersuchung des Bodens habe ich Kenntnis der kleinen Einzelheiten gewonnen, die ich diesem Trottel Lestrade mitgeteilt habe, was die Person des Verbrechers angeht.«

»Aber wie haben Sie das herausgefunden?«

»Sie kennen doch meine Methode. Sie beruht auf der Beobachtung von scheinbaren Nebensächlichkeiten.«

»Ich weiß, daß Sie seine Größe ungefähr aus der Länge seiner Schritte ermitteln können. Auch für seine Stiefel sind die Spuren aufschlußreich.«

»Ja, es waren eigenartige Stiefel.«

»Aber sein lahmes Bein?«

»Der Abdruck seines rechten Fußes war immer undeutlicher als der des linken. Er hat ihn weniger belastet.

Warum? Weil er hinkte – er ist lahm.« »Aber die Linkshändigkeit?«

»Ihnen selbst ist doch auch die Art der Verletzung aufgefallen, so, wie der Arzt sie bei der Leichenschau beschrieben hat. Der Schlag wurde von unmittelbar hinter dem Opfer ausgeführt und fiel doch auf die linke Seite. Wie kann das aber vor sich gehen, außer, der Täter ist Linkshänder? Während des Gesprächs zwischen Vater und Sohn hatte er hinter diesem Baum gestanden. Er hat dort sogar geraucht. Ich habe die Asche einer Zigarre gefunden, und meine besonderen Kenntnisse in Sachen Tabakasche machen es mir möglich, zu sagen, daß es sich um eine indische Zigarre handelt. Wie Sie wissen, habe ich diesem Thema einige Aufmerksamkeit gewidmet und eine kleine Monographie über die Asche von 140 verschiedenen Arten von Pfeifen-, Zigarren- und Zigarettentabak geschrieben. Nachdem ich die Asche gefunden hatte, habe ich mich umgesehen und schließlich den Stummel im Moos entdeckt, wohin er ihn geworfen hatte. Es war eine indische Zigarre von der Art, wie sie in

Rotterdam gerollt werden.«

»Und die Zigarrenspitze?«

»Ich konnte sehen, daß er das Ende der Zigarre nicht in den Mund genommen hat. Also hat er eine Spitze benutzt. Der Stummel war angeschnitten, nicht angebissen, aber der Schnitt war nicht sauber, also schloß ich auf ein stumpfes Federmesser.«


»Holmes«, sagte ich, »Sie haben um diesen Mann ein Netz zusammengezogen, aus dem er nicht entkommen kann, und Sie haben ein unschuldiges Menschenleben so wahrhaftig gerettet, als hätten Sie den Strick durchtrennt, an dem der Mann schon hing. Ich sehe, in welche Richtung all das deutet. Der Schuldige ist …«

»Mr. John Turner«, rief der Hotelbursche; er öffnete die Tür zu unserem Aufenthaltsraum und führte einen Besucher herein.

Der Eintretende war eine seltsame und beeindruckende Gestalt. Sein langsamer, hinkender Gang und die gebeugten Schultern verliehen ihm den Anschein der Hinfälligkeit, seine harten, tiefgefurchten, kantigen Züge und seine gewaltigen Gliedmaßen zeigten jedoch, daß er eine ungewöhnliche Stärke des Leibes und des Charakters besaß. Der wirre Bart, der graue Schopf und die buschig herabhängenden Augenbrauen trugen dazu bei, seiner Erscheinung einen Anflug von Würde und Macht zu geben, aber sein Gesicht war aschfahl, seine Lippen und die Wurzeln der Nasenflügel hingegen bläulich angehaucht. Nach dem ersten Blick war mir klar, daß ein chronisches und tödliches Siechtum ihn gepackt hatte.

»Bitte, nehmen Sie auf dem Sofa Platz«, sagte Holmes freundlich. »Sie haben mein Schreiben erhalten?«


»Ja, der Pförtner hat es mir ins Haus gebracht. Sie sagten, Sie wollten mich hier sprechen, um einen Skandal zu vermeiden.«

»Ich dachte, die Leute würden zu reden beginnen, wenn ich ins Herrenhaus käme.«

»Und warum wollten Sie mich sprechen?« Mit Verzweiflung in seinem müden Augen blickte er zu meinem Gefährten hinüber, als wäre seine Frage bereits beantwortet.

»Ja«, sagte Holmes, eher als Antwort auf den Blick denn auf die Worte. »So ist es. Ich weiß alles über McCarthy.«

Der alte Mann vergrub das Gesicht in den Händen. »Gott helfe mir«, rief er. »Aber ich hätte es nicht zugelassen, daß dem jungen Mann etwas widerfährt. Ich gebe Ihnen mein Wort, ich hätte alles gesagt, wenn es vor Gericht schlecht für ihn ausgesehen hätte.«

»Ich freue mich, daß Sie das sagen«, sagte Holmes ernst.

»Ich hätte schon längst etwas gesagt, wenn da nicht mein liebes Kind wäre. Es würde ihr das Herz brechen – es wird ihr das Herz brechen, wenn sie erfährt, daß ich verhaftet bin.«

»Es muß nicht dazu kommen«, sagte Holmes. »Was!«

»Ich bin kein offizieller Polizist. Es ist so, daß es Ihre Tochter war, die meine Anwesenheit hier wünschte, und ich handle in ihrem Interesse. Allerdings muß der junge

McCarthy freikommen.«

»Ich sterbe längst«, sagte der alte Turner. »Ich leide seit Jahren an Diabetes. Mein Arzt sagt, es ist fraglich, ob ich noch einen Monat zu leben habe. Ich würde aber lieber unter meinem eigenen Dach sterben als in einem Kerker.«

Holmes erhob sich und ließ sich am Tisch nieder, mit der Feder in der Hand und einem Bündel von Papieren vor sich. »Sagen Sie uns nur die Wahrheit«, bat er. »Ich werde die Tatsachen notieren. Sie werden es unterschreiben, und Watson hier kann es bezeugen. Dann könnte ich im äußersten Notfall Ihr Geständnis vorlegen, um den jungen McCarthy zu retten. Ich verspreche Ihnen, ich werde es nicht verwenden, solange es nicht unbedingt sein muß.«

»Es ist gut«, sagte der alte Mann. »Es ist fraglich, ob ich bis zur Gerichtsverhandlung lebe, für mich hat es also kaum eine Bedeutung, aber ich würde gern Alice den Schock ersparen. Und nun will ich Ihnen die Sache darlegen; es hat lange gedauert, bis alles reif war, aber ich Werde nicht lange brauchen, um es zu erzählen.

Sie haben ihn nicht gekannt, diesen Toten, McCarthy. Er war die Inkarnation des Teufels. Das können Sie mir glauben. Gott schütze Sie vor den Klauen eines solchen Mannes, wie er einer war. Ich war die letzten zwanzig Jahre in seiner Gewalt, und er hat mein Leben zerstört. Ich will Ihnen zunächst erzählen, wie es dazu gekommen ist, daß ich in seiner Gewalt war.

Es war in den frühen Sechzigern, in den Minen. Ich war damals ein junger Kerl, heißblütig und leichtsinnig und bereit, mich an allem und jedem zu versuchen; ich bin in schlechte Gesellschaft gekommen, habe angefangen zu trinken, hatte kein Glück mit meinem claim[6], bin in den Busch gegangen – mit einem Wort: Aus mir wurde das, was Sie hier einen Wegelagerer nennen würden. Wir waren zu sechst und hatten ein wildes, freies Leben; hin und wieder haben wir eine einsame Farmstation überfallen oder die Karren auf dem Weg zu den Minen angehalten. Ich hatte damals den Namen Black Jack of Ballarat, und in der Kolonie erinnert man sich an unsere Truppe noch immer als an die Ballarat-Bande.

Eines Tages kam ein Goldkonvoy von Ballarat herunter nach Melbourne, und wir haben im Hinterhalt gelegen und ihn überfallen. Es waren sechs Soldaten gegen uns sechs, also eine knappe Angelegenheit, aber mit der ersten Salve ist es uns gelungen, vier Sättel leerzumachen. Es mußten aber auch drei von unseren Jungs dran glauben, bevor wir kassieren konnten. Ich hatte meine Pistole an den Kopf des Wagenführers gesetzt, und das war eben dieser McCarthy. Bei Gott, ich wünschte, ich hätte ihn damals erschossen, aber ich habe ihn verschont, obwohl ich sah, wie seine kleinen bösen Augen an meinem Gesicht hingen, als ob er sich jeden einzelnen Zug einprägen wollte. Wir sind mit dem Gold entkommen, waren plötzlich wohlhabende Männer und haben uns auf den Weg nach England gemacht, ohne je verdächtigt zu werden. Hier habe ich mich von den alten Kumpanen getrennt und beschlossen, mich niederzulassen und ein ruhiges und respektables Leben zu führen. Ich habe dieses Gut hier gekauft, das zufällig gerade zu haben war, und mich daran gemacht, mit meinem Geld ein wenig Gutes zu tun, um die Art, wie ich daran gekommen war, auszugleichen. Ich habe auch geheiratet, und obwohl meine Frau sehr früh gestorben ist, hat sie mir die liebe kleine Alice hinterlassen. Auch als sie noch ein ganz kleines Kind war, schien ihre winzige Hand mich doch auf den rechten Weg zu führen wie nie etwas anderes zuvor. Mit einem Wort: Ich habe eine neue Seite aufgeschlagen und mein Bestes getan, um die Vergangenheit wiedergutzumachen. Alles war in Ordnung, als McCarthy seine Klauen nach mir ausstreckte.

Ich war nach London gefahren, wegen einer Geldanlage, und ich traf ihn in der Regent Street, abgerissen und mittellos.

›Da sind wir endlich, Jack‹, sagt er und packt mich am Arm; ›wir werden dir wie eine Familie sein. Wir sind zu zweit, ich und mein Sohn, und du darfst dich um uns kümmern. Wenn du es nicht tust – das hier ist ein schönes, gesetzestreues Land, dieses England, und überall ist ein Polizist in Rufweite.‹

Nun, dann sind sie hierher in den Westen gekommen, es war unmöglich, sie abzuschütteln, und hier haben sie seitdem ohne Pacht auf meinem besten Boden gelebt. Für mich gab es keine Ruhe, keinen Frieden, kein Vergessen; ich konnte mich drehen und wenden, überall war dieses schlaue, grinsende Gesicht neben mir. Es wurde schlimmer, als Alice aufwuchs, weil er bald begriff, daß ich mehr Angst davor hatte, Alice könnte von meiner Vergangenheit erfahren, als vor der Polizei. Was er auch haben wollte, er mußte es bekommen, und was es auch war, ich habe es ihm gegeben, ohne zu fragen, Land, Geld, Häuser, bis er schließlich etwas haben wollte, das ich ihm nicht geben konnte. Er wollte Alice haben.

Wissen Sie, sein Sohn war erwachsen geworden, und mein Mädchen auch, und weil er wußte, daß ich bei schlechter Gesundheit war, hat er es für einen schönen Streich gehalten, wenn sein Junge den ganzen Besitz erben würde. Aber diesmal bin ich fest geblieben. Ich wollte sein verfluchtes Geschlecht nicht mit meinem vermischt sehen; nicht, daß ich etwas gegen den Jungen gehabt hätte, aber McCarthys Blut fließt in seinen Adern, und das war genug. Ich blieb hart. McCarthy hat mir gedroht. Ich habe ihm getrotzt, bis er auf seine übelste Idee gekommen ist. Wir wollten uns beim Pool auf halbem Weg zwischen unseren Häusern treffen und die Sache bereden.

Als ich unten ankam, war er schon da und sprach mit seinem Sohn, also habe ich eine Zigarre geraucht und hinter einem Baum gewartet, bis er wieder allein sein würde. Aber während ich ihm zuhörte, schien alles, was in mir schwarz und bitter ist, die Oberhand zu gewinnen. Er hat seinen Sohn angetrieben, meine Tochter zu heiraten, und sich um das, was sie darüber denken könnte, so wenig gekümmert, als ob sie eine Straßendirne wäre. Es hat mich wahnsinnig gemacht, mir vorstellen zu müssen, daß ich und alles, was mir teuer ist, in der Gewalt eines solchen Mannes sein sollte. Konnte ich denn diese Ketten nicht sprengen? Ich bin längst ein todkranker und verzweifelter Mann. Wenn ich auch klaren Geistes bin und noch über einige Körperkräfte verfüge, weiß ich doch, daß mein Schicksal längst besiegelt ist. Aber mein Andenken und meine Tochter! Beides war zu retten, wenn ich nur diese ruchlose Zunge zum Schweigen bringen konnte. Ich habe es getan, Mr. Holmes. Ich würde es wieder tun. Ich habe schwer gesündigt, ich habe auch ein Märtyrerleben geführt, um dafür zu büßen. Daß aber meine Tochter in die gleichen Maschen verstrickt werden sollte, die mich gefangen hielten, das war mehr als ich ertragen konnte. Ich habe ihn niedergeschlagen, mit nicht mehr Gewissensbissen, als wenn er eine ekelhafte, giftige Bestie gewesen wäre. Sein Schrei hat den Sohn zurückgerufen, ich hatte mich aber schon im Wald in Deckung gebracht, wenn ich auch noch einmal zurückgehen mußte, um den Mantel zu holen, den ich bei der Flucht verloren hatte. Das, Gentlemen, ist die Wahrheit über alles, was vorgefallen ist.«

»Nun, es kommt mir nicht zu, über Sie zu richten«, sagte Holmes, als der alte Mann die Erklärung unterzeichnete, die Holmes entworfen hatte. »Ich bete, daß wir niemals einer solchen Versuchung ausgesetzt sein mögen.«

»Hoffentlich nicht, Sir. Und was wollen Sie nun unternehmen?«

»Angesichts Ihrer Gesundheit – nichts. Sie wissen selbst, daß Sie sich für Ihre Tat bald vor einer höheren Instanz als dem Schwurgericht zu verantworten haben. Ich werde Ihr Geständnis aufbewahren, und sollte McCarthy verurteilt werden, wäre ich gezwungen, davon Gebrauch zu machen. Ist dies nicht der Fall, wird niemand es jemals zu Gesicht bekommen; und gleich, ob Sie noch leben oder gestorben sind, Ihr Geheimnis wird bei uns sicher sein.«

»Dann leben Sie wohl«, sagte der alte Mann feierlich. »Ihr Sterbelager wird Ihnen beiden einmal leichter werden, wenn Sie an den Frieden denken, den Sie mir auf dem meinigen beschieden haben.« An seinem ganzen gewaltigen Körper bebend und zitternd hinkte er langsam aus dem Raum.

»Gott helfe uns!« sagte Holmes nach langem Schweigen. »Warum spielt das Schicksal armen hilflosen Würmern solche Streiche? Immer, wenn ich von einem solchen Fall höre, muß ich an Baxters Worte[7] denken und sage mir: ›Ohne die Gnade Gottes könnte ich das sein‹.« Wegen einer Reihe von Einwänden, die Sherlock Holmes formuliert und dem Verteidiger übergeben hatte, wurde James McCarthy vom Schwurgericht freigesprochen. Der alte Turner hatte nach unserem Gespräch noch sieben Monate zu leben; er ist nun tot, und es bestehen die besten Aussichten für ein glückliches gemeinsames Leben des Sohnes und der Tochter, ohne Kenntnis der schwarzen Wolke über ihrer Vergangenheit.


 
[1] »meine Frau« … »was ich dank einem Fall gewonnen habe« – Seine nachmalige Frau, Mary Morstan, lernte Dr. Watson zur Zeit des Abenteuers vom Zeichen der Vier kennen.

[2] »Leichenschau« ist ein öffentliches Verfahren mit Zeugenaussagen, Arztbericht etc.; die »LeichenschauKommission« setzt sich zusammen aus einer Jury und dem »Coroner« (von lat. corona, Krone), ursprünglich Vertreter des Königs bei Verfahren. Aufgabe des Coroner ist es, bei Todesfällen, deren Ursache nicht einwandfrei natürlich ist, zu ermitteln und ggf., wenn ein »Fall« daraus wird, diesen an die nächsthöhere Instanz weiterzuleiten.


[3] »Polizeigericht« (Police Court) ± städtisches oder Bezirksgericht, das kleinere Straftaten berät oder ggf. an das Schwurgericht (assizes) weiterleitet.

[4] George Meredith (1828–1909), wurde nicht nur von Holmes sondern auch von Conan Doyle sehr geschätzt wegen seiner Romane, in denen er großes psychologisches Einfühlungsvermögen zeigte.

[5] a rat – eine Ratte.

[6] claim, von engl. to claim, fordern, verlangen, Anspruch erheben auf etc., bezeichnet das auf den Namen eines Prospektors eingetragene und ausschließlich von diesem auszubeutende Landstück; erfahrene Leser von Karl May und Gerstäcker verwenden »ich habe meinen Claim abgesteckt« durchaus in übertragener Bedeutung. In der politischen Umgangssprache der BRD, z.B. bezogen auf Posten oder Leitlinienentwürfe des Kabinetts, hat sich diese Formel allerdings – vermutlich mangels Lektüre – nicht durchgesetzt.

[7] »Baxters Worte« – hier hat sich Sherlock Holmes vertan, indem er den Satz »But for the grace of God there goes John Bradford« dem Theologen und Schriftsteller Richard Baxter (1615–1691) zuschrieb. Geäußert hat den Satz aber eben John Bradford (1510–1555) angesichts von Verbrechern, die zur Hinrichtung geführt wurden, und mit diesem einen Satz wurde er berühmt.


Der blaue Karfunkel


In der Absicht, ihm schöne Festtage zu wünschen, hatte ich meinen Freund, Sherlock Holmes am zweiten Morgen nach Weihnachten besucht. Angetan mit einem purpurroten Schlafrock lag er müßig auf dem Sofa; rechter Hand befand sich ein Pfeifenständer in seiner Reichweite, und gleich daneben lag ein Stapel offensichtlich frisch gelesener, zerknitterter Morgenzeitungen. Neben der Couch stand ein hölzerner Sessel, und auf einer Ecke der Rückenlehne hing ein über alle Maßen jammervoller und unreputierlicher Hut aus steifem Filz, arg abgenutzt und mehrfach eingerissen. Ein Vergrößerungsglas und eine Zange auf der Sitzfläche des Sessels verrieten, daß der Hut zum Zweck einer Untersuchung in dieser Weise angebracht worden war.

»Sie sind beschäftigt«, sagte ich; »vielleicht störe ich Sie.«

»Keineswegs. Ich bin erfreut, einen Freund hier zu haben, mit dem ich meine Ergebnisse erörtern kann. Die Sache ist völlig unbedeutend«, – er machte mit dem Daumen eine ruckartige Bewegung zum Hut hin – »aber im Zusammenhang damit gibt es einige Punkte, die eines gewissen Interesses nicht gänzlich entbehren und außerdem lehrreich sind.«

Ich ließ mich in seinem Lehnsessel nieder und wärmte meine Hände vor dem knisternden Feuer, denn es hatte ein strenger Frost eingesetzt, und die Fensterscheiben waren von üppigen Eisblumen überwuchert. »Ich nehme an«, bemerkte ich, »daß dieses Ding, wenn es auch noch so heimelig aussieht, mit einer tödlichen Geschichte verbunden ist – daß es der Faden ist, der Sie bei der Lösung eines Rätsels und der Bestrafung eines Verbrechens leiten wird.«

»Nein, nein. Kein Verbrechen«, sagte Sherlock Holmes lachend. »Nur einer dieser absonderlichen kleinen Zwischenfälle, die unvermeidlich sind, wenn sich vier Millionen Menschen auf einem Gebiet von wenigen Quadratmeilen drängen und stoßen. Unter all den Aktionen und Reaktionen eines so dichten Menschenschwarms ist damit zu rechnen, daß jede mögliche Kombination von Vorfallen sich ereignet, und manch ein kleines Problem kann sich stellen, das überraschend und bizarr ist, ohne gleich verbrecherisch zu sein. Wir haben doch bereits Erfahrungen dieser Art gemacht.«

»Und zwar so reichlich«, stellte ich fest, »daß von den letzten sechs Fällen, die ich in meine Sammlung von Notizen aufgenommen habe, drei völlig frei von irgendeinem Verbrechen im Sinne des Gesetzes waren.«


»Genau. Sie spielen auf meinen Versuch an, die Papiere von Irene Adler zu beschaffen, außerdem auf den einzigartigen Fall von Miss Mary Sutherland und auf das Abenteuer des Mannes mit der entstellten Lippe. Ich habe keinen Zweifel, daß diese geringfügige Sache hier in die gleiche unschuldige Kategorie fallen wird. Kennen

Sie Peterson, den Dienstmann?«

»Ja.«

»Er ist es, dem diese Trophäe gehört.«

»Das ist sein Hut?«

»Nein, nein; er hat ihn gefunden. Der Besitzer ist unbekannt. Ich bitte Sie: Betrachten Sie dieses Ding nicht als schäbigen chapeau, sondern als intellektuelles Problem. Zunächst zur Frage, wie es hergekommen ist. Der Hut traf hier am Weihnachtsmorgen ein, in Begleitung einer schonen fetten Gans, die zweifellos in diesem Augenblick vor Petersons Feuer brutzelt. Der Tatbestand ist der Folgende. Am Weihnachtsmorgen, gegen vier Uhr in der Frühe, kam Peterson, der, wie Sie wissen, ein sehr ehrlicher Kerl ist, von einer kleinen Lustbarkeit zurück und befand sich auf dem Heimweg durch die Tottenham Court Road. Im Licht der Gaslaternen sah er vor sich einen großgewachsenen Mann, der beim Gehen ein wenig schwankte und eine weiße Gans trug, die er über die Schulter geworfen hatte. Ecke Goodge Street brach zwischen diesem Fremden und einer kleinen Gruppe von Raufbolden ein Streit aus. Einer der Strolche schlug dem Mann den Hut vom Kopf, worauf dieser seinen Stock hob, um sich zu verteidigen, und als er damit weit ausholte, zertrümmerte er hinter sich ein Ladenfenster. Peterson war vorwärtsgelaufen, um dem Fremden gegen seine Angreifer beizustehen, aber als der Mann, der entsetzt darüber war, daß er das Fenster zertrümmert hatte, nun auch noch eine amtlich aussehende Person in Uniform auf sich zustürzen sah, ließ er seine Gans fallen, gab Fersengeld und verschwand in dem Labyrinth kleiner Straßen hinter der Tottenham Court Road. Bei Petersons Erscheinen waren auch die Raufbolde geflohen, und so fand er sich im Besitz des Schlachtfeldes und auch der Siegesbeute, in Gestalt dieses verbeulten Huts und einer gänzlich untadeligen Weihnachtsgans.«


»Die er doch sicher ihrem Besitzer zurückgegeben hat?«

»Genau hier liegt das Problem, mein Lieber. Zwar stand auf einer kleinen Karte, die an das linke Bein des Vogels gebunden war, ›Für Mrs. Henry Baker‹, und weiterhin sind wohl die Initialen ›H.B.‹ im Hutfutter zu lesen; da es aber in dieser unserer Stadt einige tausend Bakers und einige hundert Henry Bakers gibt, ist es nicht ganz einfach, irgendeinem von ihnen eine Fundsache zurückzuerstatten.«

»Was hat Peterson dann getan?«

»Er hat mir am Weihnachtsmorgen sowohl den Hut als auch die Gans gebracht, da er weiß, daß mich auch die kleinsten Probleme interessieren. Die Gans haben wir bis heute früh behalten, als sich Anzeichen dafür einstellten, daß es trotz des leichten Frosts ratsam wäre, sie ohne weiteren, unnötigen Aufschub zu verzehren. Der Finder hat sie also heimgeführt, daß sich an ihr die letzte Bestimmung einer jeden Gans erfülle, während ich noch immer den Hut des unbekannten Gentleman besitze, der sein Weihnachtsessen verloren hat.«

»Hat er nicht annonciert?«

»Nein.«

»Haben Sie denn irgendwelche Hinweise auf seine

Identität?«

»Nur das, was wir deduzieren können.«

»Von seinem Hut?«

»Genau.«

»Aber Sie scherzen doch wohl. Was können Sie von diesem alten, schäbigen Filz deduzieren?«

»Hier ist mein Vergrößerungsglas. Sie kennen meine

Methoden. Was können Sie selbst über die Person des Mannes feststellen, der diesen Gegenstand getragen hat?«

Ich nahm das zerlumpte Objekt in die Hände und wandte es ziemlich bekümmert hin und her. Es handelte sich um einen ganz gewöhnlichen schwarzen Hut von der üblichen runden Form, steif und von langem Gebrauch abgenutzt. Das Futter aus vormals roter Seide war sehr verfärbt. Der Name eines Herstellers war nicht zu finden; wie Holmes bemerkt hatte, waren jedoch die Initialen ›H.B.‹ auf eine Seite gekritzelt. Die Krempe war durchbohrt, um einen Kinnriemen zu befestigen; dieser fehlte jedoch. Im übrigen war der Hut eingerissen, sehr verstaubt und an mehreren Stellen befleckt, wenn auch offenbar Versuche gemacht worden waren, die verfärbten Stellen zu verbergen, indem man sie mit Tinte beschmierte.

»Ich kann nichts sehen«, sagte ich; ich gab meinem Freund den Hut zurück.

»Im Gegenteil, Watson, Sie können alles sehen. Es gelingt Ihnen nur nicht, aus dem, was Sie sehen, Schlüsse zu ziehen. Was das angeht, sind Sie allzu zurückhaltend.«

»Dann sagen Sie mir doch bitte, was Sie glauben, aus diesem Hut ableiten zu können?«

Er nahm ihn auf und starrte ihn in der merkwürdig grüblerischen Art an, die für ihn eigentümlich ist. »Er sagt uns vielleicht weniger, als er sagen könnte«, bemerkte er, »und dennoch sind einige sehr eindeutige Schlußfolgerungen möglich und einige weitere, die zumindest über eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit verfügen. Natürlich ist es auf den ersten Blick klar, daß der Mann überaus intellektuell veranlagt ist, und weiter, daß er vor etwa drei Jahren ganz wohlhabend war, wenn er auch nun schlechte Zeiten durchmacht. Er besaß Weitblick, hat davon aber heute weniger als früher, was auf einen moralischen Rückschritt deutet; dieser wiederum, wenn wir ihn zusammen mit dem Niedergang seiner Lebensumstände betrachten, scheint darauf zu verweisen, daß bei ihm schlimme Einflüsse am Werk sind – vermutlich Alkohol. Das mag auch der Grund für die offensichtliche Tatsache sein, daß seine Frau ihn nicht mehr liebt.«

»Mein lieber Holmes!«

»Er hat sich jedoch noch ein wenig Selbstachtung bewahrt«, fuhr Holmes fort, ohne meinen Protest zu beachten. »Dieser Mann führt ein seßhaftes Leben, geht selten aus, ist in schlechter körperlicher Verfassung, mittleren Alters, hat graue Haare, die er im Verlauf der letzten Tage hat schneiden lassen, und die er mit Limonenpomade pflegt. Das sind die auf der Hand liegenden Tatsachen, die von diesem Hut deduziert werden können. Ach, und außerdem auch, daß sein Haus höchstwahrscheinlich nicht an die Gasversorgung angeschlossen ist.«

»Sie scherzen doch sicher, Holmes.«

»Aber keineswegs. Ist es denn möglich, daß Sie auch jetzt noch, nachdem ich Ihnen diese Ergebnisse genannt habe, nicht sehen können, wie ich zu ihnen gelangt bin?«

»Ich bezweifle nicht, daß ich sehr dumm bin; ich muß aber zugeben, daß ich Ihnen nicht folgen kann. Wie leiten Sie zum Beispiel ab, daß der Mann ein Intellektueller ist?«

Zur Antwort setzte Holmes sich selbst den Hut auf. Er bedeckte die ganze Stirn und ruhte schließlich auf der Nasenwurzel. »Das ist eine Frage des Fassungsvermögens«, sagte er. »Ein Mann mit einem so großen Kopf muß etwas darin haben.«

»Und der Niedergang seiner Lebensumstände?«

»Dieser Hut ist drei Jahre alt. Diese flachen, an den Rändern aufgebogenen Krempen kamen damals in Mode. Der Hut ist von allerbester Qualität. Schauen Sie sich das Band aus gerippter Seide an und das ausgezeichnete Futter. Wenn dieser Mann es sich vor drei Jahren leisten konnte, einen so teuren Hut zu kaufen, und seither keinen neuen, dann ist er doch sicher in weltlichen Dingen auf dem Abstieg.«

»Nun ja, das ist sicher deutlich genug. Aber was ist mit dem Weitblick und dem moralischen Rückschritt?«

Sherlock Holmes lachte. »Hier ist der Weitblick«, sagte er; er legte seinen Finger auf die kleine Scheibe und Öse, daran der Kinnriemen befestigt werden sollte. »Man verkauft sie nie zusammen mit dem Hut. Daß der Mann eine solche Vorrichtung verlangt hat, spricht für einen gewissen Weitblick, denn er hat sich die Mühe gemacht, Vorkehrungen gegen den Wind zu treffen. Aber da wir sehen, daß der Riemen abgebrochen ist und er sich nicht die Mühe gegeben hat, ihn zu ersetzen, hat er heute offensichtlich weniger Weitblick als früher, und das ist ein deutlicher Beweis dafür, daß sein Charakter schwächer geworden ist. Andererseits hat er versucht, einige dieser Flecken auf dem Filz zu verbergen, indem er Tinte darüber schmiert, was ein Zeichen dafür ist, daß er seine

Selbstachtung noch nicht völlig verloren hat.«

»Ihre Argumentation ist ohne Zweifel plausibel.«

»Die weiteren Punkte, daß er mittleren Alters ist, daß sein Haar grau wird, daß es kürzlich geschnitten wurde und daß er Limonenpomade verwendet, lassen sich alle einer gründlichen Untersuchung des Futters entnehmen, und zwar des unteren Teils. Das Vergrößerungsglas zeigt eine große Anzahl von Haarspitzen, die von der Schere des Barbiers glatt abgeschnitten wurden. Sie scheinen alle dort festzukleben, und es riecht entschieden nach Limonenpomade. Wie Sie feststellen werden, ist dieser Staub nicht grauer, grießiger Straßenstaub, sondern flockiger, brauner Hausstaub, was uns zeigt, daß der Hut meistens im Haus gehangen hat; die Feuchtigkeitsflecken auf der Innenseite dagegen sind klare Beweise dafür, daß der Träger des Huts stark geschwitzt hat und folglich kaum in bester körperlicher Verfassung sein kann.«

»Aber seine Frau – Sie haben gesagt, sie liebt ihn nicht mehr.«

»Dieser Hut ist seit Wochen nicht mehr gebürstet worden. Wenn ich Sie einmal mit dem Staub von einer Woche auf dem Hut sehe, Watson, und Ihre Frau läßt sie in einem solchen Zustand ausgehen, werde ich fürchten müssen, daß auch Sie so unglücklich waren, die Zuneigung Ihrer Frau zu verlieren.«

»Er könnte aber doch Junggeselle sein.«

»Nein, er wollte doch als Friedensangebot an seine Frau die Gans nach Hause bringen. Denken Sie an die Karte am Bein des Vogels.«

»Sie wissen auf alles eine Antwort. Aber wie, um alles in der Welt, deduzieren Sie, daß das Haus nicht ans Gas angeschlossen ist?«

»Ein oder zwei Talgflecken können Zufall sein; wenn ich aber nicht weniger als fünf sehe, dann, so glaube ich, kann es kaum einen Zweifel daran geben, daß die Person oft mit brennendem Talg in Berührung kommt – wahrscheinlich steigt er nachts Treppen mit dem Hut in der einen und einer tropfenden Kerze in der anderen Hand. Jedenfalls hat er die Talgflecken niemals von einer Gasleitung. Sind Sie jetzt zufrieden?«

»Es ist auf alle Fälle sehr scharfsinnig«, sagte ich lachend; »da aber, wie Sie eben gesagt haben, kein Verbrechen begangen wurde und außer dem Verlust der Gans kein Schaden entstanden ist, scheint mir das Ganze doch eine ziemliche Energievergeudung zu sein.«

Sherlock Holmes hatte bereits den Mund zu einer Antwort geöffnet, als die Tür aufsprang und der Dienstmann Peterson mit geröteten Wangen und dem Gesicht eines vor Verblüffung fassungslosen Menschen ins Zimmer stürzte.

»Die Gans, Mr. Holmes! Die Gans, Sir!« keuchte er.

»Eh? Was ist denn damit? Ist sie wieder lebendig geworden und durch das Küchenfenster fortgeflattert?« Holmes verdrehte sich auf dem Sofa, um das erregte Gesicht des Mannes besser sehen zu können.

»Schauen Sie, Sir! Schauen Sie, was meine Frau im Kropf gefunden hat!« Er streckte die Hand aus, und inmitten der Handfläche lag ein strahlend funkelnder blauer Stein, ein wenig kleiner als eine Bohne, aber von solcher Reinheit und Leuchtkraft, daß er wie ein elektrischer Funke in der dunklen Höhlung der Hand blitzte.

Sherlock Holmes setzte sich auf und pfiff. »Beim Zeus, Peterson«, sagte er, »das ist wirklich ein Schatzfund! Ich nehme an, Sie wissen, was Sie da haben?«


»Einen Diamanten, Sir! Einen kostbaren Stein! Er schneidet Glas, als ob es Kitt wäre.«

»Das ist mehr als ein kostbarer Stein. Es ist der kostbare Stein überhaupt.«

»Doch nicht der blaue Karfunkel der Gräfin von Morcar?« rief ich aus.

»Genau der. Ich muß seine Größe und Form ja wohl kennen, da ich in letzter Zeit jeden Tag die ihn betreffende Anzeige in der Times gelesen habe. Er ist absolut einmalig, und über seinen Wert läßt sich nur mutmaßen, aber die ausgesetzte Belohnung von tausend Pfund ist sicher noch nicht einmal ein Zwanzigstel des Marktwerts.«

»Tausend Pfund! Du lieber Gott!« Der Dienstmann plumpste in einen Sessel und starrte uns abwechselnd an.

»Das ist die Belohnung, und ich habe gute Gründe, anzunehmen, daß im Hintergrund Erwägungen sentimentaler Natur mitspielen, die die Gräfin auch dazu bewögen, sich von der Hälfte ihres Vermögens zu trennen, wenn sie nur diesen Edelstein zurückbekommen könnte.«

»Wenn ich mich recht entsinne, hat sie ihn doch wohl im Hotel Cosmopolitan verloren«, bemerkte ich.

»Das stimmt, und zwar am 22. Dezember, also erst vor fünf Tagen. John Horner, ein Klempner, wurde beschuldigt, ihn aus der Schmuckschatulle der Lady entwendet zu haben. Die Umstände sprachen so sehr gegen ihn, daß der Fall schon an das Schwurgericht überwiesen worden ist. Ich glaube, ich habe hier einen Bericht über die Vorgänge.« Er kramte in seinen Zeitungen, schaute nach den Daten und glättete schließlich ein Blatt, faltete es einmal und las den folgenden Absatz vor:

Juwelendiebstahl Hotel Cosmopolitan. John Horner, 26, Klempner, wurde vorgeführt unter der Beschuldigung, am 22. des laufenden aus der Juwelenschatulle der Gräfin von Morcar den wertvollen Edelstein entwendet zu haben, der als der Blaue Karfunkel bekannt ist. James Ryder, Verwalter im Hotel, sagte hierzu aus, er habe Horner am Tag des Diebstahls in das Ankleidezimmer der Gräfin von Morcar geführt, wo dieser die zweite Stange des Kamingitters löten sollte, die sich gelöst hatte. Er sei eine kurze Weile bei Horner geblieben, dann jedoch abgerufen worden. Bei seiner Rückkehr habe er festgestellt, daß Horner verschwunden und der Sekretär aufgebrochen worden sei, und das kleine Kästchen aus Saffianleder, in welchem, wie später bekannt wurde, die Gräfin das Kleinod aufzubewahren pflegte, habe leer auf dem Frisiertisch gelegen. Ryder löste sogleich den Alarm aus, und Horner wurde noch am gleichen Abend festgenommen; der Stein konnte jedoch weder bei ihm noch in seinen Räumen gefunden werden. Catherine Cusack, die Zofe der Gräfin, gab an, Ryders Entsetzensschrei bei der Entdeckung des Diebstahls gehört zu haben und in den Raum gestürzt zu sein, wo sie die Dinge so vorfand, wie der vorige Zeuge sie beschrieben hatte. Inspektor Bradstreet von der Abteilung B sagte zu Homers Verhaftung aus; dieser habe sich heftig gewehrt und seine Unschuld mit Kraftausdrücken beteuert. Da eine frühere Verurteilung wegen Diebstahls ebenfalls gegen den Verhafteten sprach, lehnte der Polizeirichter es ab, sich mit dem Vergehen summarisch zu befassen, sondern er verwies es ans Schwurgericht. Horner, der während des Verfahrens Anzeichen starker Gefühlsbewegung gezeigt hatte, fiel bei dem Beschluß in Ohnmacht und wurde aus dem Gericht getragen.

»Hm! So viel zum Polizeigericht«, sagte Holmes nachdenklich; er warf die Zeitung beiseite. »Die Frage, die wir nun zu klären haben, ist die Abfolge der Ereignisse zwischen einer geplünderten Schmuckschatulle an einem Ende und dem Kropf einer Gans in der Tottenham Court Road am anderen. Wie Sie sehen, Watson, erhalten unsere kleinen Deduktionen plötzlich einen viel bedeutenderen und weniger unschuldigen Charakter. Hier ist der Stein; der Stein stammt aus der Gans, und die Gans stammt von Mr. Henry Baker, dem Gentleman mit dem schäbigen Hut und all den anderen Charakteristika, mit denen ich Sie gelangweilt habe. Wir müssen uns nun also ernsthaft daran begeben, diesen Gentleman ausfindig zu machen und festzustellen, welche Rolle er in diesem kleinen Mysterium gespielt hat. Zu diesem Behuf müssen wir zunächst das einfachste Mittel einsetzen, und dies ist zweifellos eine Anzeige in allen Abendblättern. Sollte das ein Fehlschlag werden, müßte ich zu anderen Methoden greifen.«

»Was wollen Sie schreiben?«

»Geben Sie mir einen Bleistift und dieses Stückchen Papier. Nun denn: ›Gefunden – Ecke Goodge Street, eine Gans und ein schwarzer Filzhut. Mr. Henry Baker kann diese um 6 Uhr 30 heute abend in 221 B Baker Street abholen.‹ Das ist klar und knapp.«

»Sehr sogar. Aber wird er es lesen?«

»Er wird ja sicher die Zeitungen im Auge behalten, da der Verlust für einen armen Mann doch schwer wiegt. Daß er das Pech hatte, die Fensterscheibe zu zerbrechen, und daß Peterson sich ihm näherte, hat ihn ja offenbar so erschreckt, daß er an nichts als Flucht denken konnte; aber seither muß er den Impuls bitterlich bedauert haben, der ihn dazu brachte, den Vogel fallen zu lassen. Außerdem wird die Nennung seines Namens dafür sorgen, daß er es sieht, weil jeder, der ihn kennt, ihn darauf aufmerksam machen wird. Da haben Sie es, Peterson; laufen Sie bitte zur Anzeigenannahme damit und lassen Sie es in die

Abendzeitungen setzen.«

»In welche, Sir?«

»Also, in Globe, Star, Pall Mall, St. James¶s Gazette, Evening News, Standard, Echo und was Ihnen sonst noch unterkommt.«

»Sehr gut, Sir, und dieser Stein?«

»Ah ja – ich werde den Stein aufbewahren. Ich danke Ihnen. Und übrigens, Peterson, kaufen Sie doch bitte auf dem Rückweg eine Gans und lassen Sie sie mir hier; wir müssen ja dem Gentleman eine geben anstelle jener, die Ihre Familie in diesem Moment verschlingt.«

Als der Dienstmann gegangen war, nahm Holmes den Stein auf und hielt ihn vor das Licht. »Das ist ein hübsches Stück«, sagte er. »Sehen Sie nur, wie es glitzert und funkelt. Natürlich ist es Kern und Brennpunkt von Verbrechen. Das ist jeder gute Stein. Das sind die Lieblingsköder des Teufels. Bei den größeren alten Juwelen kann jede Facette für eine Bluttat stehen. Dieser Stein ist noch keine zwanzig Jahre alt. Man hat ihn am Ufer des Amoy in Südchina gefunden; bemerkenswert an ihm ist, daß er alle Charakteristika des Karfunkel aufweist, abgesehen davon, daß er bläulich ist statt rubinrot. Obwohl er noch jung ist, hat er doch schon eine düstere Geschichte. An ihm hängen zwei Morde, ein Vitriol-Anschlag, ein Selbstmord und mehrere Diebstähle, alles wegen dieser vierzig Gran wiegenden kristallisierten Holzkohle. Wer denkt schon beim Anblick eines so hübschen Spielzeugs daran, daß es Galgen und Gefängnis mit Nachschub versorgt? Ich werde es jetzt in meiner Stahlkassette einschließen und der Gräfin schreiben, daß wir es haben.«

»Glauben Sie, daß dieser Mann, Horner, unschuldig ist?«

»Ich weiß es nicht.«

»Könnten Sie sich denn vorstellen, daß dieser andere, Henry Baker, etwas mit der Sache zu tun hatte?«

»Ich glaube, es ist sehr viel wahrscheinlicher, daß Henry Baker vollkommen unschuldig ist und keine Ahnung davon hatte, daß der Vogel, den er bei sich trug, viel wertvoller war, als wenn er aus purem Gold bestanden hätte. Das werde ich jedoch durch einen sehr einfachen Versuch feststellen, falls wir Antwort auf unsere

Anzeigen erhalten.«

»Und bis dahin können Sie also nichts tun?«

»Nichts.«

»In diesem Fall mache ich mich wieder auf die Rundreise zu meinen Patienten. Ich werde aber heute abend zur von Ihnen genannten Zeit zurückkommen; ich würde doch zu gern die Auflösung einer so verwickelten Geschichte sehen.«

»Ich freue mich, wenn Sie kommen. Ich esse um sieben Uhr. Ich glaube, es gibt eine Waldschnepfe. Dabei fällt mir ein: Vielleicht sollte ich angesichts der jüngsten Vorfalle Mrs. Hudson bitten, sich den Kropf der Schnepfe genauer anzusehen.«

Einer meiner Fälle hielt mich auf, und es war bereits kurz nach halb sieben, ehe ich wieder in der Baker Street eintraf. Als ich mich dem Haus näherte, sah ich einen großen Mann mit Schottenmütze und bis zum Kinn zugeknöpftem Mantel; er wartete außerhalb des hellen Halbkreises, den das Licht im Haus durch die Rosette über der Tür auf die Straße warf. Genau in dem Moment, da ich die Tür erreichte, wurde sie geöffnet, und wir wurden zusammen zu Holmes’ Räumen hinaufgeführt.

»Mr. Henry Baker, nehme ich an«, sagte Holmes; er erhob sich aus seinem Lehnsessel und begrüßte seinen Besucher mit jener ungezwungenen Freundlichkeit, die er so leicht an den Tag legen konnte. »Bitte nehmen Sie diesen Stuhl neben dem Feuer, Mr. Baker. Es ist ein kalter Abend, und ich sehe, daß Ihr Kreislauf mehr auf Sommer als auf Winter eingestellt ist. Ah, Watson, Sie kommen gerade rechtzeitig. Ist das Ihr Hut, Mr. Baker?«

»Ja, Sir, das ist ohne Zweifel mein Hut.«

Er war großgewachsen, mit runden Schultern, einem massigen Kopf und einem breiten, intelligenten Gesicht, das sich nach unten zu einem spitzen, graubraunen Bart verjüngte. Ein Hauch von Rot in Nase und Wangen und ein leichter Tremor in seiner ausgestreckten Hand riefen mir Holmes’ Vermutungen über seine Gewohnheiten wieder ins Gedächtnis. Sein verschossener, schwarzer Gehrock war vorn ganz zugeknöpft, der Kragen hochgeschlagen, und die schmalen Handgelenke, die aus den Ärmeln ragten, wiesen keinerlei Anzeichen von Manschetten oder Hemd auf. Er sprach leise und abgehackt, wählte seine Worte bedächtig und machte ganz allgemein den Eindruck eines gebildeten und verständigen Mannes, dem das Schicksal übel mitgespielt hatte.

»Wir haben diese Dinge ein paar Tage lang aufbewahrt«, sagte Holmes, »weil wir gehofft hatten, eine Anzeige von Ihnen zu finden, in der Sie Ihre Adresse angeben. Ich begreife nicht, weshalb Sie nicht annonciert haben.«

Unser Besucher stieß ein eher verschämtes Lachen aus. »Shillinge stehen mir nicht mehr so reichlich zur Verfügung wie früher einmal«, stellte er fest. »Ich war sicher, daß die Bande von Raufbolden, von denen ich überfallen wurde, sowohl den Vogel als auch den Hut mitgenommen hat. Ich wollte nicht noch mehr Geld bei dem sinnlosen Versuch verlieren, sie zurückzubekommen.«

»Das ist verständlich. Übrigens, was den Vogel angeht – wir waren gezwungen, ihn zu verzehren.«

»Ihn zu verzehren!« Unser Besucher stand vor Erregung beinahe auf.

»Ja. Niemand hätte etwas davon gehabt, wenn wir es nicht getan hätten. Ich nehme aber an, daß diese zweite Gans da auf der Anrichte, ungefähr gleich schwer und ganz frisch, Ihren Absichten genauso entspricht.«

»Oh, ja, gewiß doch!« erwiderte Mr. Baker mit einem Seufzer der Erleichterung.

»Natürlich haben wir noch Federn, Beine, Kropf und so weiter von Ihrem eigenen Vogel, wenn Sie Wert darauf legen …«

Der Mann brach in ein munteres Gelächter aus. »Ich könnte sie nur als Andenken an mein Abenteuer nehmen«, sagte er, »aber darüber hinaus sehe ich nicht, welchen Nutzen ich aus den disiecta membra[1] meiner verblichenen Bekannten ziehen könnte. Nein, Sir, ich glaube, ich werde mit Ihrer gütigen Erlaubnis meine Aufmerksamkeiten auf das vorzügliche Tier beschränken, das ich da auf der Anrichte sehe.«

Sherlock Holmes sah mich scharf an und zuckte kaum merklich mit den Schultern.

»Da haben Sie also Ihren Hut, und da Ihren Vogel«, sagte er. »Nebenbei – hätten Sie etwas dagegen, mir zu erzählen, woher Sie die andere Gans bekommen haben? Ich bin selbst in gewisser Weise ein Geflügel-Liebhaber, und ich habe selten eine besser gezüchtete Gans gesehen.«

»Das will ich Ihnen gern sagen, Sir«, meinte Baker; er hatte sich erhoben und klemmte sich seine wiedergewonnenen Besitztümer unter den Arm. »Einige von uns verkehren regelmäßig im Alpha Inn neben dem Museum – tagsüber findet man uns im Museum selbst, wissen Sie. Dieses Jahr hat unser freundlicher Wirt – er heißt Windigate – einen Gänseclub ins Leben gerufen, mit dessen Hilfe wir für ein paar Pence pro Woche zu Weihnachten


»Verfolgen Sie eine heiße (Umsatz-)Spur … Lebenssprühende intelligente Kriminalfälle … in literarisch wertvoller, jugendgerechter Neufassung … selbstverständlich ohne ›Sprach-Spinnweben‹ und Kokain … Sherlock Holmes läßt Ihre Kasse klingeln!!! TV-gestärkt –« Danke, das reicht.

eine Gans bekommen sollten. Ich habe meine Pence pünktlich bezahlt, und den Rest der Geschichte kennen Sie. Ich bin Ihnen sehr verbunden, Sir, denn eine Schottenmütze paßt weder zu meinem Alter noch zu meiner Würde.« Mit drolliger Gestelztheit verneigte er sich feierlich vor jedem einzelnen von uns und machte sich auf den Weg.

»So viel zu Mr. Henry Baker«, sagte Holmes, als er die Tür hinter ihm geschlossen hatte. »Es ist ziemlich sicher, daß er überhaupt nichts von dieser Sache weiß.

Haben Sie Hunger, Watson?«

»Nicht besonders.«

»Dann schlage ich vor, wir machen aus unserem Dinner ein Supper und verfolgen diese Spur, solange sie noch warm ist.«

»Aber unbedingt.«

Der Abend war bitter kalt, daher schlüpften wir in unsere Ulster und schlangen Wolltücher um unsere Hälse. Draußen leuchteten die Sterne kalt in einem wolkenlosen Himmel, und der Atem der Passanten war wie der Rauch vieler Pistolenschüsse. Unsere Schritte klangen trocken und laut, als wir das Ärzteviertel durchquerten, Wimpole Street, Harley Street, dann weiter durch die Wigmore Street zur Oxford Street. Innerhalb einer Viertelstunde hatten wir das Alpha Inn in Bloomsbury erreicht, ein kleines Lokal an der Ecke einer jener Straßen, die nach Holborn führen. Holmes stieß die Tür zur Bar auf und bestellte zwei Glas Bier bei dem rotgesichtigen Wirt mit der weißen Schürze.


»Ihr Bier muß hervorragend sein, wenn es so gut ist wie Ihre Gänse«, sagte er.

»Meine Gänse!« Der Mann wirkte überrascht.

»Ja. Ich habe erst vor einer halben Stunde mit Mr. Henry Baker gesprochen, einem Mitglied Ihres Gänseclubs.«

»Ach so, ja, ich verstehe. Aber wissen Sie, Sir, das sind nicht unsere Gänse.«

»Tatsächlich? Wessen denn?«

»Also, ich hatte die zwei Dutzend von einem Händler in Covent Garden.«

»Tatsächlich! Ich kenne einige Händler dort. Wer ist es?«

»Er heißt Breckinridge.«

»Ah! Den kenne ich nicht. Na, auf Ihr Wohl, Herr Wirt, und auf gute Geschäfte. Gute Nacht!

Jetzt zu Mr. Breckinridge«, fuhr er fort, als wir wieder in die frostige Luft hinaustraten. Er knöpfte seinen Mantel zu. »Bedenken Sie, Watson, wenn wir an einem Ende dieser Kette auch etwas so Heimeliges wie eine Gans haben, am anderen ist ein Mann, der zweifellos sieben Jahre Zuchthaus bekommen wird, wenn wir nicht seine Unschuld beweisen können. Es ist möglich, daß unsere Nachforschung letzten Endes nur seine Schuld bekräftigt; in jedem Fall haben wir hier aber eine Richtung für Nachforschungen gefunden, die die Polizei übersehen und die ein einzigartiger Zufall uns in die Hand gespielt hat. Wir wollen ihr bis zum bitteren Ende nachgehen. Also, die Augen nach Süden, und Geschwindschritt – marsch!«

Wir durchquerten Holborn, nahmen die Endell Street und erreichten durch ein Gewirr von Elendsquartieren endlich den Markt von Covent Garden. An einem der größten Stände prangte der Name Breckinridge, und der Besitzer, ein Mann mit einem hageren Pferdegesicht und gepflegtem Backenbart, half gerade einem Jungen dabei, die Vorsetzläden anzubringen.

»Guten Abend. Kalt ist es«, sagte Holmes.

Der Händler nickte und warf meinem Gefährten einen fragenden Blick zu.

»Wie ich sehe, sind die Gänse ausverkauft«, fuhr Holmes fort; er wies auf die nackten Marmorplatten.

»Morgen früh können Sie fünfhundert kriegen.«

»Das ist zu spät.«

»Hm, es gibt noch welche an dem Stand mit dem Gaslicht.«

»Ja, aber man hat mir Sie empfohlen.«

»Wer?«

»Der Wirt vom ›Alpha‹.«

»Ach ja; dem habe ich ein paar Dutzend geschickt.«

»Und schöne Vögel waren das. Woher hatten Sie die denn bekommen?«

Zu meiner Überraschung bewirkte diese Frage einen Wutausbruch bei dem Händler.

»Also hören Sie, Mister«, sagte er, wobei er den Kopf schieflegte und die Fäuste in die Seiten stemmte, »worauf wollen Sie hinaus? Raus damit!«

»Das ist doch ganz einfach. Ich möchte wissen, wer Ihnen die Gänse verkauft hat, die Sie ans ›Alpha‹ geliefert haben.«

»Na schön, ich werde es Ihnen nicht sagen. Und jetzt?«

»Ach, die Sache ist völlig unwichtig; ich weiß nur nicht, weshalb Sie wegen so einer Nebensächlichkeit derartig in Hitze geraten.«

»Hitze! Vielleicht wären Sie auch so hitzig, wenn Sie deswegen dauernd so gelöchert würden wie ich. Wenn ich gutes Geld für einen guten Artikel bezahle, dann sollte es damit gut sein; aber dauernd heißt es ›Wo sind die Gänse?‹ und ›Wem haben Sie die Gänse verkauft?‹ und ›Was wollen Sie für die Gänse haben?‹ Man könnte fast meinen, das wären die einzigen Gänse in der Welt, so viel Wind wird deswegen gemacht.«

»Ich habe nichts mit anderen Leuten zu tun, die sich vielleicht danach erkundigt haben«, sagte Holmes wegwerfend. »Wenn Sie es uns nicht sagen wollen, kann ich meine Wette nicht gewinnen, das ist alles. Ich bin nämlich immer bereit, für meine Meinung über Geflügel etwas springen zu lassen, und ich habe einen Fünfer verwettet, daß der Vogel, den ich gegessen habe, auf dem Land gezogen wurde.«

»Dann haben Sie Ihren Fünfer verloren, er kommt nämlich aus der Stadt«, schnauzte der Händler.

»Das kann nicht sein.«

»Wenn ich es Ihnen doch sage.«

»Ich glaube Ihnen nicht.«

»Bilden Sie sich denn ein, Sie verstehen mehr von Geflügel als ich, wo ich mich doch damit auskenne, seit ich ein Laufbursche war? Ich sage Ihnen, alle Vögel, die ans ›Alpha‹ gegangen sind, stammen aus der Stadt.«

»Sie werden mich nie dazu bringen, Ihnen das abzunehmen.«

»Wollen Sie darauf wetten?«

»Ich will Ihnen nicht Ihr Geld aus der Tasche ziehen; ich weiß doch, daß ich recht habe. Aber ich will gern einen Sovereign gegen Sie setzen, nur, um Ihnen beizubringen, daß man nicht so stur sein sollte.«

Der Händler lachte grimmig. »Bring mir die Bücher, Bill«, sagte er.

Der Junge brachte ihm ein kleines und ein großes Buch mit fettigem Einband und legte sie beide unter die Hängelampe.

»Also dann, Mister Besserwisser«, sagte der Händler. »Ich dachte, ich hätte keine Gänse mehr, aber bevor wir miteinander fertig sind, werden Sie feststellen, daß hier doch noch so ein dummer Vogel ist. Sehen Sie das kleine

Buch?«

»Was ist damit?«

»Das ist die Liste der Leute, von denen ich kaufe. Klar? Also weiter. Hier, auf dieser Seite, das sind die Leute vom Land, und die Zahl hinter dem Namen ist, wo ich ihr Konto in der großen Kladde finde. Also dann! Sehen Sie diese andere Seite da, mit roter Tinte? Das ist die Liste meiner Lieferanten in der Stadt. Sehen Sie sich mal den dritten Namen an. Lesen Sie ihn mir laut vor.«

»Mrs. Oakshott, 117 Brixton Road – 249«, las Holmes.

»Genau. Jetzt suchen Sie das in der Kladde.«

Holmes schlug die angegebene Seite auf. »Da ist es.

›Mrs. Oakshott, 117 Brixton Road, Eier und Geflügel.‹«

»Na, und was ist die letzte Eintragung?«

»›22. Dezember. Vierundzwanzig Gänse zu siebeneinhalb Shilling.‹«

»Genau. Da haben Sie es. Und was steht darunter?«

»›Verkauft an Mr. Windigate vom »Alpha« für zwölf

Shilling.‹«

»Und was sagen Sie jetzt?«

Sherlock Holmes sah zutiefst betrübt drein. Er zog einen Sovereign aus der Tasche und warf ihn auf die Schranne; dann wandte er sich ab, mit dem Gesichtsausdruck eines Mannes, der allzu angeekelt ist, um noch zu sprechen. Einige Yards weiter blieb er unter einem Laternenpfahl stehen und lachte in seiner eigentümlichen, gleichzeitig herzhaften und lautlosen Art.

»Wenn Sie einen Mann mit solchem Backenbart sehen, aus dessen Tasche eine Turf-Zeitschrift[2] herauslugt, dann können Sie ihn immer mit einer Wette ködern«, sagte er. »Ich glaube, selbst wenn ich hundert Pfund bar auf den Tisch gelegt hätte, hätte er mir keine so vollständigen Informationen gegeben wie jetzt, als er meinte, er könnte mich bei einer Wette hereinlegen. Ich glaube, Watson, wir nähern uns dem Ende unserer Suche, und der einzige Punkt, der noch zu klären bleibt, ist die Frage, ob wir diese Mrs. Oakshott noch heute besuchen oder ob wir uns das für morgen aufheben. Nach dem, was dieser bärbeißige Bursche gesagt hat, ist es klar, daß außer uns noch andere sich für diese Sache interessieren, und ich sollte …«


Seine Ausführungen wurden jählings von lautem Getöse unterbrochen, das an dem Stand ausgebrochen war, den wir eben erst verlassen, hatten. Als wir uns umdrehten, sahen wir einen kleinen Mann mit einem Rattengesicht; er stand im Mittelpunkt des gelben Lichtkreises unter der Hängelampe, während der Händler Breckinridge, eingerahmt von der Tür seiner Bude, wütend seine Fäuste vor der geduckten Gestalt schüttelte.

»Ich habe euch und eure Gänse satt«, schrie er. »Von mir aus könnt ihr allesamt zum Teufel gehen. Wenn noch jemand kommt und mich mit diesem vermaledeiten Unsinn löchert, lasse ich meinen Hund los. Sie können Mrs. Oakshott herbringen, und ihr werde ich antworten, aber was haben Sie damit zu schaffen? Habe ich die Gänse etwa von Ihnen gekauft?«

»Nein, aber eine davon gehörte trotzdem mir«, winselte der kleine Mann.

»Dann fragen Sie doch Mrs. Oakshott nach ihr.«

»Sie hat mir gesagt, ich soll Sie fragen.«

»Von mir aus können Sie den König von Preußen danach fragen. Ich habe genug davon. Verschwinden Sie hier!« Er stürzte wütend vor, und der Frager huschte in der Dunkelheit von hinnen.

»Ha, das könnte uns einen Besuch in der Brixton Road ersparen«, flüsterte Holmes. »Kommen Sie, wir wollen sehen, was mit diesem Burschen anzufangen ist.« Mein Gefährte schritt aus, durchquerte die verstreuten Gruppen von Leuten, die um die erleuchteten Stände herumlungerten, holte den kleinen Mann sehr bald ein und berührte dessen Schulter. Er fuhr herum, und im Licht der Gaslaternen konnte ich sehen, daß jede Spur von Farbe aus seinem Gesicht gewichen war.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie?« fragte er mit zitternder Stimme.

»Entschuldigen Sie«, sagte Holmes sanft, »aber es war mir unmöglich, die Fragen zu überhören, die Sie eben dem Händler gestellt haben. Ich glaube, ich könnte Ihnen helfen.«

»Sie? Wer sind Sie denn? Was könnten Sie denn schon von der Angelegenheit wissen?«

»Mein Name ist Sherlock Holmes. Es gehört zu meinen Aufgaben, das zu wissen, was andere nicht wissen.« »Aber hiervon können Sie doch wohl nichts wissen?«

»Verzeihen Sie, aber ich weiß alles darüber. Sie versuchen, die Spur einiger Gänse zu verfolgen, die von Mrs. Oakshott aus der Brixton Road an einen Händler namens Breckinridge, und von ihm wiederum an Mr. Windigate vom ›Alpha‹ verkauft worden sind, von diesem schließlich an seinen Club, in dem Mr. Henry Baker ein Mitglied ist.«

»Oh, Sir, Sie sind genau der Mann, den ich gesucht habe«, rief der kleine Bursche, mit ausgestreckter Hand und bebenden Fingern. »Ich kann Ihnen kaum sagen, wie sehr ich an dieser Sache interessiert bin.«

Sherlock Holmes hielt eine vorüberfahrende Droschke an. »In diesem Fall sollten wir es wohl besser in einem behaglichen Raum als auf diesem zugigen Markt erörtern«, sagte er. »Aber bevor wir fortfahren, sagen Sie mir doch bitte, mit wem ich das Vergnügen habe.«

Der Mann zögerte einen Augenblick lang. »Mein Name ist John Robinson«, antwortete er dann, mit einem verstohlenen Seitenblick.

»Nein, nein, den richtigen Namen«, sagte Holmes milde. »Es ist immer mißlich, Geschäfte mit einem alias zu machen.«


Röte stahl sich auf die bleichen Wangen des Fremden.

»Also schön«, sägte er, »in Wirklichkeit heiße ich James Ryder.«

»Das stimmt. Verwalter im Hotel Cosmopolitan. Bitte steigen Sie in den Wagen, und ich werde Ihnen sehr bald alles sagen können, was Sie nur wissen wollen.«

Der kleine Mann stand da und blickte von einem zum anderen, mit halb ängstlichen, halb hoffnungsvollen Augen, wie einer, der nicht sicher weiß, ob er vor einer Glückssträhne oder einer Katastrophe steht. Dann stieg er in den Wagen, und eine halbe Stunde später waren wir wieder im Wohnraum in der Baker Street. Während der Fahrt war kein einziges Wort gefallen, aber das hohe, dünne Atmen unseres neuen Bekannten und das Öffnen und Schließen seiner Hände sprachen von der nervösen Spannung, die in ihm herrschte.

»Da sind wir!« sagte Holmes munter, als wir hintereinander den Raum betraten. »Das Feuer sieht so aus, als wäre es dem Wetter angemessen. Sie sehen verfroren aus, Mr. Ryder. Nehmen Sie doch bitte den Korbsessel. Ich will mir nur eben meine Hausschuhe anziehen, bevor wir Ihr kleines Anliegen bereinigen. So! Sie möchten also wissen, was aus diesen Gänsen geworden ist?«

»Ja, Sir.«

»Oder genauer, aus dieser Gans. Es war, glaube ich, nur ein Vogel, an dem Sie interessiert waren – weiß, mit einem schwarzen Streifen am Sterz.«

Ryder zitterte vor Erregung. »Oh, Sir«, rief er, »können Sie mir sagen, wo sie geblieben ist?«

»Sie war hier.«

»Hier?«

»Ja, und es stellte sich heraus, daß sie ein überaus bemerkenswerter Vogel war. Ich verstehe sehr gut, daß Sie ein solches Interesse an ihr haben. Sie legte ein Ei, nachdem sie tot war – das hübscheste, leuchtendste kleine blaue Ei, das jemals gesichtet wurde. Ich habe es hier in meinem Museum.«

Unser Besucher kam schwankend auf die Füße und klammerte sich mit der rechten Hand an den Kaminsims. Holmes schloß die Stahlkassette auf und hielt den blauen Karfunkel hoch, der wie ein Stern kalt und prächtig mit seinen vielen strahlenden Facetten aufleuchtete. Ryder stand dort und starrte ihn mit verzerrtem Gesicht an, unentschlossen, ob er ihn beanspruchen oder verleugnen sollte.

»Das Spiel ist aus, Ryder«, sagte Holmes ruhig. »Halten Sie sich fest, Mann, sonst fallen Sie ins Feuer. Helfen Sie ihm zurück zum Sessel, Watson. Er ist nicht Manns genug, um ungestraft ein Kapitalverbrechen zu begehen.

Geben Sie ihm einen Schuß Brandy. So! Jetzt sieht er ein bißchen menschlicher aus. Nein, welch ein Wurm!«

Einen Augenblick lang war er getaumelt und fast gefallen, aber der Brandy brachte wieder einen Hauch von Farbe auf seine Wangen, und mit angstvoll aufgerissenen Augen saß er da und starrte seinen Ankläger an.

»Ich kenne fast alle Einzelheiten und habe alle Beweise, die ich überhaupt nur brauche, es gibt also nicht mehr viel, was Sie mir noch erzählen müßten. Immerhin können wir dieses wenige nun auch noch klarstellen, um den Fall zu vervollständigen. Ryder, Sie hatten von diesem blauen Stein der Gräfin von Morcar gehört?«

»Das war Catherine Cusack, die mir davon erzählt hat«, sagte er mit brüchiger Stimme.

»Aha. Die Zofe von Mylady. Die Versuchung, plötzlichen Reichtum so leicht erringen zu können, war zu viel für Sie, wie schon für bessere Männer vor Ihnen; aber Sie hatten keine besonderen Skrupel bei der Wahl Ihrer Mittel. Es scheint mir so, Ryder, als wären Sie aus dem Holz, aus dem man nette kleine Schurken macht. Sie wußten, daß dieser Homer, der Klempner, schon einmal die Finger in so einer Sache gehabt hat und deshalb um so schneller in Verdacht geraten würde. Was haben Sie dann getan? Sie haben irgend etwas im Zimmer von Mylady angerichtet – Sie und Ihre Spießgesellin Cusack – und dafür gesorgt, daß man nach Horner schickt, um es in Ordnung zu bringen. Als er wieder gegangen war, haben Sie die Schmuckschatulle geplündert, Alarm ausgelöst und diesen unglücklichen Mann verhaften lassen. Dann haben Sie …«

Ryder warf sich plötzlich auf den Teppich nieder und umklammerte die Knie meines Gefährten. »Um Gottes willen, seien Sie gnädig!« kreischte er. »Denken Sie an meinen Vater! An meine Mutter! Es würde ihnen das Herz brechen. Ich habe noch nie etwas Böses getan! Ich werde es nie wieder tun! Das schwöre ich. Ich schwöre es auf eine Bibel. Oh, bringen Sie es nur nicht vor Gericht! Um Himmels willen, tun Sie es nicht!«

»Zurück in Ihren Sessel!« sagte Holmes streng. »Sie können jetzt gut wimmern und zu Kreuze kriechen, aber Sie haben reichlich wenig Gedanken an den armer Horner verschwendet, der für ein Verbrechen auf der Anklagebank sitzt, von dem er nichts weiß.«

»Ich werde fliehen, Mr. Holmes. Ich gehe außer Landes, Sir. Dann wird die Anklage gegen ihn zusammenbrechen.«

»Hm! Darüber sprechen wir noch. Aber jetzt berichten Sie uns wahrheitsgemäß über den nächsten Akt. Wie kam der Stein in die Gans, und wie kam die Gans auf den freien Markt? Sagen Sie uns die Wahrheit; das ist Ihre einzige Hoffnung, ungestraft davonzukommen.«


Ryder fuhr sich mit der Zunge über die spröden Lippen. »Ich will es Ihnen erzählen, genau so, wie es sich abgespielt hat, Sir«, sagte er. »Als Homer verhaftet war, dachte ich, es wäre wohl das Beste, wenn ich mich mit dem Stein sofort davonmache; ich wußte ja nicht, ob nicht die Polizei es sich im nächsten Moment in den Kopf setzt, mich und mein Zimmer zu durchsuchen. Im Hotel wäre er nirgendwo sicher gewesen. Ich bin aus dem Hotel, als ob ich einen Auftrag zu erledigen hätte, und zum Haus meiner Schwester gegangen. Sie hat einen Mann namens Oakshott geheiratet und lebt in der Brixton Road, wo sie Geflügel für den Markt mästet. Den ganzen Tag hatte ich das Gefühl, jeder, dem ich begegne, ist ein Polizist oder Detektiv, und obwohl die Nacht kalt war, war ich schweißgebadet, als ich in der Brixton Road ankam. Meine Schwester fragte mich, was los ist, und warum ich so bleich bin; ich habe ihr aber gesagt, ich wäre nur aufgeregt über den Juwelendiebstahl im Hotel. Dann bin ich in den Hinterhof gegangen und habe eine Pfeife geraucht und überlegt, was ich wohl am besten tun sollte.

Ich hatte einmal einen Freund namens Maudsley, und der hat gerade seine Zeit in Pentonville abgesessen. Vor kurzem ist er mir begegnet und hat angefangen, mir über die Arbeit von Dieben zu erzählen, und wie sie die Sachen loswerden, die sie gestohlen haben. Ich wußte, daß ich mich auf ihn verlassen konnte, weil ich ein oder zwei Dinge über ihn weiß, deshalb habe ich mich dazu entschlossen, sofort nach Kilburn zu gehen, wo er wohnt, und ihn einzuweihen. Er würde mir bestimmt sagen, wie ich den Stein zu Geld machen kann. Aber wie sollte ich sicher zu ihm kommen? Ich dachte an die Ängste, die ich auf dem Weg vom Hotel durchgemacht hatte. Man konnte mich ja jeden Moment festnehmen und durchsuchen, und dann hätte ich den Stein in der Westentasche. Dabei stand ich die ganze Zeit an die Wand gelehnt und starrte auf die Gänse, die mir um die Füße watschelten, und dann hatte ich plötzlich eine Idee, wie ich auch den besten Detektiv schlagen könnte, den es je gegeben hat.

Ein paar Wochen vorher hatte meine Schwester mir gesagt, ich könnte mir als Weihnachtsgeschenk von ihr die Gans aussuchen, die ich haben wollte, und ich wußte ja, daß sie immer für ihr Wort einsteht. Ich würde mir die Gans jetzt schon nehmen, und sie sollte meinen Stein nach Kilburn tragen. Im Hof steht ein kleiner Schuppen, und hinter den habe ich einen der Vögel gejagt, ein schönes großes Tier, weiß, mit einem gestreiften Sterz. Ich habe sie gefangen, ihr mit Gewalt den Schnabel geöffnet und ihr den Stein in die Gurgel geschoben, soweit mein Finger reicht. Die Gans schluckt, und ich kann fühlen, wie der Stein durch den Hals nach unten in den Kropf rutscht. Aber das Tier schlägt mit den Flügeln und zetert, und schon taucht meine Schwester auf, um nachzusehen, was los ist. Als ich mich umdrehe, um mit ihr zu reden, reißt sich das Vieh los und verschwindet flügelschlagend zwischen den anderen.

›Was machst du denn da mit dem Vogel, Jem?‹ sagt meine Schwester.

›Also‹, sage ich, ›du hast gesagt, du schenkst mir eine zu Weihnachten, und ich wollte feststellen, welche die fetteste ist.‹

›Oh‹, sagt sie, ›deine haben wir schon aussortiert. Jems Vogel nennen wir sie. Die große weiße Gans da drüben. Hier sind gerade sechsundzwanzig, das macht eine für dich, eine für uns und zwei Dutzend für den Markt.‹

›Danke, Maggie‹, sage ich, ›aber wenn es dir nichts ausmacht, nehme ich lieber die, die ich gerade in der Hand hatte.‹

›Aber die andere ist gut drei Pfund schwerer‹ sagt sie, ›und wir haben sie extra für dich gemästet.‹

›Macht nichts. Ich möchte die andere haben, und ich nehme sie gleich mit‹, sage ich.

›Mach, was du willst‹, sagt sie, ein bißchen beleidigt. ›Also, welche willst du jetzt?‹

›Die weiße da, mit dem Streifen am Sterz, mitten in der Schar.‹

›Na gut. Schlachte sie und nimm sie mit.‹

Also, ich habe getan, was sie gesagt hat, Mr. Holmes, und ich habe den Vogel die ganze Strecke nach Kilburn getragen. Ich erzähle meinem Kumpel, was ich angestellt habe, er ist nämlich einer, dem man so etwas ganz einfach erzählen kann. Er lacht, bis ihm die Luft wegbleibt, und wir haben ein Messer genommen und die Gans aufgemacht. Dann ist mir das Herz stehengeblieben; wir haben nämlich keine Spur von dem Stein gefunden, und ich wußte, daß ich einen schrecklichen Fehler gemacht hatte. Ich habe den Vogel Vogel sein lassen und bin zurück zu meiner Schwester gerannt und in den Hof gestürzt. Aber da war kein einziger Vogel mehr.

›Wo sind die alle, Maggie?‹ rufe ich.

›Zum Händler.‹

›Welcher Händler?‹

›Breckinridge, Covent Garden.‹

›Aber war denn da noch eine mit Streifen am Sterz?‹ frage ich. ›Genau wie die, die ich mir ausgesucht habe?‹

›Ja, Jem, wir hatten zwei mit gestreiften Sterzen, und ich habe sie nie auseinanderhalten können.‹

Da ist mir natürlich alles klar gewesen, und ich bin zu diesem Breckinridge gerannt, so schnell ich konnte; aber er hatte die ganze Lieferung sofort weiterverkauft und wollte mir überhaupt nicht sagen, wohin sie gegangen waren. Sie haben ihn ja heute abend selbst gehört. Mir hat er jedesmal genau so geantwortet. Meine Schwester hält mich jetzt für verrückt. Manchmal glaube ich das selbst. Und jetzt – jetzt bin ich ein gebrandmarkter Dieb, und dabei habe ich den Reichtum, für den ich meinen guten Ruf aufs Spiel gesetzt habe, nie angefaßt. Gott helfe mir! Gott helfe mir!« Er brach in krampfhaftes Schluchzen aus und vergrub das Gesicht in den Händen.

Ein langes Schweigen stellte sich ein, unterbrochen nur von seinem Schnaufen und vom leisen, gleichmäßigen Klopfen von Sherlock Holmes’ Fingerspitzen auf dem Tisch. Schließlich erhob mein Freund sich und riß die Tür auf.

»Hinaus!« sagte er.

»Was, Sir! Oh, Gott segne Sie!«

»Kein Wort mehr. Hinaus!«


Weitere Worte waren auch nicht nötig. Er stürzte hinaus, polterte die Treppe hinab, die Haustür fiel krachend ins Schloß, und wir hörten ihn immer leiser die Straße hinabrennen.

»Letzten Endes, Watson«, sagte Holmes, als er die Hand nach seiner Tonpfeife ausstreckte, »werde ich nicht von der Polizei bezahlt, um ihre Fehler auszubügeln. Wenn Homer in Gefahr wäre, wäre es etwas anderes, aber da dieser Bursche nicht mehr gegen ihn aussagen kann, wird die Anklage zusammenbrechen. Ich glaube, ich übertrete gerade ein Gesetz, aber möglicherweise rette ich damit eine Seele. Dieser Mann wird kein Verbrechen mehr begehen. Das hat ihn zu sehr entsetzt. Wenn man ihn jetzt ins Gefängnis steckt, macht man einen lebenslangen Galgenvogel aus ihm. Abgesehen davon haben wir die Jahreszeit der Vergebung. Der Zufall hat uns ein ganz einzigartiges und absonderliches Problem zugespielt, und es gelöst zu haben, ist Belohnung genug. Wenn Sie die Freundlichkeit aufbrächten, zu läuten, Doktor, könnten wir mit einer anderen Untersuchung beginnen, bei der wieder ein Vogel die Hauptrolle spielt.«


 
[1] disiecta membra ± Der »gebildete Mann« Henry Baker spielt hier auf ein Zitat von Horaz an: »Invenias disiecti membra poetae«, zu deutsch »Du magst die Glieder des zerstückelten Dichters finden«. Horaz sprach hier davon, was mit literarischen Werken alles angestellt werden kann. Auch Conan Doyle mußte einiges über sich ergehen lassen: die ›Gesammelten Werke in Einzelausgaben. Herausgegeben von Nino Erne‹, die ursprünglich im Mosaik Verlag erschienen, sind stark gekürzt und auf »modern« getrimmt: Holmes und Watson duzen sich beispielsweise. Und die Verlagsgruppe Franck/Kosmos kündigte ihre Ausgabe mit den folgenden Worten an:

[2] »Turf-Zeitschrift« – im Original Pink µUn (the pink one, das Rosafarbene), eine auf billigem Papier gedruckte Zeitung, die sich nur mit Pferderennen und -wetten befaßte.


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